SPIEGEL ONLINE. Russland-Experte Rahr: "Deutschlands Ostpolitik hat die Balance verloren"
"Die Amerikaner haben den Deutschen das Hirn amputiert": Ein umstrittenes Interview des Russland-Experten Alexander Rahr befeuert den Streit über Berlins Kurs gegenüber Moskau. Rahr fühlt sich missverstanden, fordert aber eine deutlich stärkere Partnerschaft mit Präsident Putin.
Unter Außenpolitikern in Berlin und deutschen Russland-Kennern kursiert in diesen Tagen ein Interview. Alexander Rahr, Verfechter einer Partnerschaft mit Russland, hat es dem russischen Millionenblatt "Komsomolskaja Prawda" gegeben. Der Text ist gespickt mit Attacken auf den Westen, die so scharf sind, dass sie auch aus der Feder eines Redenschreibers des Kremls stammen könnten.
"Der Westen verhält sich, wie die Sowjetunion" steht in der Überschrift, und im Text, Deutschlands "Huldigung an die USA" sei "wie eine Religion". Rahr fühlt sich von der Zeitung "reingelegt und in einer Weise zitiert, die manipulativ ist".
Das im Mai 2012 veröffentlichte Gespräch heizt eine Debatte über Deutschlands Russlandkurs an - und auch über die Rolle eines der einflussreichsten Russland-Experten. Rahr ist Forschungsdirektor des Deutsch-Russischen Forums und Mitglied im Lenkungsausschuss des Petersburger Dialogs. Als Mitarbeiter der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) hat er lange Jahre um Verständnis für Präsident Putin geworben. 2012 wechselte er als Berater zum Energie-Unternehmen Wintershall.
SPIEGEL ONLINE: Ihr Interview sorgt für Kopfschütteln. Deutschland führe sich gegenüber Russland auf wie eine Siegermacht im Kalten Krieg, heißt es da. Berlin versuche mit "aggressiven Methoden, liberale Werte und westliche Demokratie nach Russland zu exportieren". Ist das Ihr Ernst?
Rahr: Mit der Journalistin war ein Hintergrundgespräch abgesprochen, kein Wortlautinterview. Es sollte um mein Buch gehen, um ein Kapitel, das Missverständnisse zwischen Russland und dem Westen behandelt. Ich habe dieses Kapitel scharf formuliert, es geht darin auch um die Bestürzung vieler Russen, die dem Westen vorwerfen, Russland nach Kreuzfahrermanier zu bekehren.
SPIEGEL ONLINE: Sie sagen, der Westen verhalte sich "wie die Sowjetunion". Das ist abstrus: Die Sowjetunion war eine Diktatur, die Regierungen in den Vereinigten Staaten und der EU sind demokratisch gewählt.
Rahr: Ich vergleiche nicht westliche Werte wie Demokratie mit dem Kommunismus. Ich sehe Parallelen zwischen dem Sendungsbewusstsein, mit dem wir daran gehen, unsere Werte als die einzig richtigen in der Welt zu propagieren, und dem Vorgehen der Sowjets, die kommunistische Bewegungen in anderen Ländern förderten. Wir unterstützen, ohne dies offen zu sagen, "Regime change" überall auf der Welt aktiv durch Stiftungen, vor allem machen das US-amerikanische.
SPIEGEL ONLINE: Sie behaupten in dem Gespräch, "die Amerikaner haben den Deutschen das Hirn amputiert".
Rahr: Das ist nicht meine Wortwahl. Der Text wurde zugespitzt, der Sinn verkürzt, vieles habe ich in anderem Zusammenhang gesagt. Ich bin selbst Deutscher, wieso sollte ich behaupten, man habe mir das Hirn amputiert? In Wahrheit ist das ein Satz, den ich oft von russischen Politologen höre. Diese habe ich zitiert. Die sagen seit Jahren: "Wir dachten, die Deutschen haben eigene geopolitische Interessen. Statt die mit Russland zu verfolgen, reden sie aber immer nur von Werten, Werten, Werten. Die Amerikaner haben den Deutschen wohl das Gehirn amputiert."
SPIEGEL ONLINE: Was soll schlecht sein an Demokratie und Menschenrechten?
Rahr: Nichts. Als Sohn russischer Migranten bin ich froh, in einem Rechtsstaat zu leben. Aber ich bin fassungslos, wie sehr wir deutsche Interessen außer Acht lassen. Deutschlands Außenpolitik hat die Balance verloren, die sie zu Zeiten von Gerhard Schröder, Helmut Kohl oder Willy Brandt hatte. Es ging da ja auch um Menschenrechte, zugleich verfolgte Deutschland mit seiner Ostpolitik aber auch eigene Interessen. Sprechen wir heute über Russland, geht es nur um Demokratie und Menschenrechte, aber nie um das, was Europa mit Russland als Partner gewinnen könnte.
SPIEGEL ONLINE: Was meinen Sie?
Rahr: Ein stabiles Kontinentaleuropa. In Sibirien lagern Rohstoff-Vorkommen, die wir noch brauchen werden. Unsere einseitige Fokussierung auf Werte hindert Europa, strategisch kluge Außenpolitik zu betreiben. Nehmen Sie die Ukraine: Es wäre im Interesse der EU, sie jetzt durch ein Assoziierungsabkommen an sich zu binden. Das ist aber nicht möglich, weil dem Fall der inhaftierten Oppositionsführerin Timoschenko Vorrang eingeräumt wird.
SPIEGEL ONLINE: Die "Zeit" kritisiert, dass Sie sich die Kreml-Rhetorik zueigenmachen. Ihr Nachfolger bei der DGAP wirft Ihnen "einseitige Kontakte zu Russlands Führung" vor.
Rahr: Ich bin Mitglied im Waldai-Club, in dem westliche Russland-Experten Putin treffen. Da sind viele Amerikaner, Briten, nur die meisten Deutschen machen einen Bogen darum. Mir wird ja oft vorgeworfen, ich säße bei Putin auf dem Schoß. Die gleichen Leute waren aber immer beglückt, wenn ich mit meinen Kontakten wichtige russische Politiker zur DGAP brachte. Ich habe aber oft das Problem, dass man mich missversteht.
SPIEGEL ONLINE: Inwiefern?
Rahr: Ich habe zwei Identitäten. Ich bin mit einem Bein in der russischen Migration aufgewachsen, aber in Deutschland politisch groß geworden. Ich war 1990 das erste Mal in der Sowjetunion, seitdem empfinde ich viel Sympathie für Russland. Vielleicht ist mir in Russland mehr verständlich, was bei anderen Unverständnis hervorruft. Ich finde das Russland, das wir heute sehen, authentischer, als die neunziger Jahre unter Jelzin.
SPIEGEL ONLINE: Jelzins Herrschaft war zwar chaotisch, dank konkurrierender Parteien und TV-Kanälen, aber leidlich demokratisch.
Rahr: Die Mehrheit der Russen denkt anders. Stabilität und die Orientierung an einer starken Hand sind ihnen wichtiger als Demokratie. Das gilt nicht für den westlich orientierten Mittelstand. Putin muss die Balance wahren zwischen dieser liberalen Minderheit und einer großen konservativen Mehrheit, die von einer Wiederauferstehung Russlands als Imperium träumt.
SPIEGEL ONLINE: Wie sollte sich deutsche Politik verhalten?
Rahr: Sie kann sich angewidert abwenden oder weiter erfolglos versuchen, Russland zur Demokratie zu zwingen. Vernünftiger wäre zu akzeptieren, dass Russlands Entwicklung mindestens 40 Jahre hinter dem Westen hinterherhinkt, wir Moskau aber im eigenen Interesse enger an Europa binden sollten. Wir haben aber Osteuropa einfach vergessen.
SPIEGEL ONLINE: Der "Komsomolskaja Prawda" sagten Sie, der Kreml-Chef wolle "durch Deutschland Freundschaft mit dem Westen schließen", er komme nach Berlin "mit reinem Herzen". Stellen Sie Putin nicht zu freundlich dar?
Rahr: Westliche Medien beschreiben Putin als jemanden, der lügt und den Westen hasst. Das entspricht nicht seinem wahren Charakter. Ich habe ihn recht gut kennengelernt und treffe ihn jedes Jahr. Mit Deutschland verbindet ihn viel. Als er 2000 Präsident wurde, sprach er Deutsch, kein Englisch, deshalb reiste er zuerst nach Deutschland, nicht in die USA. Wir hätten viel mit ihm erreichen können. Wir könnten es noch heute. Er ist sehr stur, aber er setzt noch immer auf Deutschland.
SPIEGEL ONLINE: Die größten Hindernisse für eine Annäherung türmt Putin doch selbst auf, indem er Gegner ins Gefängnis werfen lässt und Nichtregierungsorganisationen gängelt.
Rahr: Man kann das so sehen. Gleichzeitig unterhalten wir gute Beziehungen zu Saudi-Arabien, wo es auch Probleme mit der Einhaltung von Menschenrechten gibt. Der Westen soll Werte ja nicht unter den Tisch fallen lassen. Er sollte sich vielmehr zu einem Vorbild entwickeln, damit die Russen irgendwann von selbst zu der Einsicht gelangen, dass sie lieber in einer pluralistischen Demokratie leben wollen. Das kann Generationen dauern.
Das Interview führte Benjamin Bidder
Zur Person: Alexander Rahr ist einer der einflussreichsten und streitbarsten deutschen Russland-Experten. Als Mitarbeiter der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) war er prominenter Verfechter einer Annäherung an Russland. 2012 wechselte Rahr zum Energieunternehmen Wintershall. Rahr ist Mitglied im Lenkungsausschuss des Petersburger Dialogs und Autor der Putin-Biografie "Der Deutsche im Kreml".
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Комментарии из фейсбука после публикации интервью А.Рара SPIGEL ONLINE на странице сайта "Русское поле":
Carl Cullas: "SPIEGEL ONLINE: Sie sagen, der Westen verhalte sich "wie die Sowjetunion". Das ist abstrus: Die Sowjetunion war eine Diktatur, die Regierungen in den Vereinigten Staaten und der EU sind demokratisch gewählt."
- Типичный пример, когда журналист не имеет ни малейшего понятия о логике. Конечно могут демократически избранные правительства вести себя как диктатуры, одно не имеет отношения к другому. Яркий пример - бесноватый Адольф, демократически избранный...
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