Was treibt den starken Mann im Kreml an? Putin will die Größe Russlands wiederherstellen – ohne Demokratie und Menschenrechte. Die Russen folgen ihm: Sie misstrauen mehrheitlich dem westlichen Modell.
Von Alexander Rahr (Die Welt)
Vor fünfzehn Jahren kam Wladimir Putin in Russland an die Macht. Die Weltöffentlichkeit fragte erstaunt: Who is Mr. Putin? Heute könnte die Antwort widersprüchlicher nicht sein. Für die einen ist er ein machthungriger Autokrat, der Menschenrechte mit Füßen tritt und das Sowjetimperium wieder auferstehen lässt. Für die anderen ist er ein weitsichtiger Politiker, der Russland vor dem Zerfall gerettet, stabilisiert und in die erste Liga der Weltpolitik zurückgeführt hat.
Die Zeitschrift "Forbes" erkor Putin zum mächtigsten Politiker 2013. Vermutlich wird Putin 2014 die Weltpolitik weiter dominieren. Sotschi – Putins größtes Prestigeprojekt – soll demonstrieren, dass Russland, das vor fünfzehn Jahren noch am Rande des Ruins stand, sich Muskeln angelegt hat und eine moderne Großmacht geworden ist. Die Begnadigung vieler Regimekritiker soll helfen, das Image zu verbessern. Doch der Westen will sich nicht blenden lassen und nennt Putin einen "Halbstarken", der seine Macht ausschließlich vom hohen Ölpreis bezieht.
Putin präsentiert sich neuerdings als geistiger Anführer eines "anderen Europa", das für christlich-konservative Werte steht und dem ultraliberalen und postmodernen Westeuropa moralisch trotzt. In der breiten russischen Bevölkerung und in wertekonservativen Kreisen des Westens erntet er dafür Lob. Der rechtskonservative US-Politiker Pat Buchanan meinte kürzlich, Putin sei "einer von uns".
75 Prozent der Russen misstrauen der Marktwirtschaft
Im Westen gilt Putin als Gegner der Demokratie. Putin selbst sagt, er sei nur dem russischen Volk Rechenschaft schuldig. Tatsächlich sind für die Mehrheit der Russen ein funktionierender Ordnungsstaat und soziale Stabilität nach wie vor wichtiger als Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. 75 Prozent der Russen misstrauen einer freien Marktwirtschaft. Eine große Mehrheit hat den Verlust des Imperiums nicht überwunden. Russen vertrauen einem starken Staat und keiner Zivilgesellschaft. Nicht umsonst schrieb der begnadigte Ex-Oligarch Michail Chodorkowski, Putin sei "liberaler" als 80 Prozent seiner Bevölkerung.
Wenn der Westen Putin besser verstehen will, sollte er sich mit den Ideen des Schriftstellers und Nobelpreisträgers Alexander Solschenizyn auseinandersetzen. Putin hat sich jahrelang von ihm Rat geholt. Unter den Dissidenten der Sowjetunion gab es früher zwei Strömungen. Die eine verkörperte der Nobelpreisträger Andrei Sacharow. Für ihn standen Freiheit und Menschenrechte an erster Stelle. Die andere verkörperte Solschenizyn. Sein Ideal war die Umwandlung der kommunistischen Sowjetunion in einen starken russischen Nationalstaat.
Putin glaubt, dass seine historische Mission im Wiederaufbau des russischen Staates besteht. Ferner glaubt er, dieses Ziel nur durch das Machtmonopol des Präsidenten verwirklichen zu können. Sich von einer politischen Opposition, Medien und Zivilgesellschaft kritisieren oder gar torpedieren zu lassen – so wie es seinem Vorgänger Boris Jelzin oft wiederfahren ist – erscheint ihm kontraproduktiv. Ganz auf Pluralismus verzichten kann er aber nicht – deshalb entwarf Putin das Modell der gelenkten Demokratie.
"Ich habe euch den Wohlstand gegeben"
Putin ist kein Demokrat. Er baut seine Machtfülle stetig aus – mit Hilfe seiner Vertrauten aus den Geheimdiensten, deren Loyalität er sich damit erkauft, indem er sie immer reicher werden lässt. Doch Putin ist kein Feind der EU. Er hat der EU immer wieder Kooperationsangebote unterbreitet, sei es bei Energiefragen, gemeinsamer Raketenabwehr oder einer Freihandelszone von Lissabon bis Wladiwostok. Nach den Terroranschlägen vom 11. September bot er den USA eine sicherheitspolitische Zusammenarbeit an, welche die USA ablehnten. In seiner ersten Amtszeit lehnte Putin einen Beitritt Russlands zur Nato und EU nie grundsätzlich ab.
Im Innern verfolgte er einen liberalen Wirtschaftskurs. Damals wurde das Eigentum in Russland vollständig legalisiert und die Basis für die heutige konsumintensive Wirtschaft gelegt. In seiner zweiten Amtszeit widmete er sich dem Aufbau eines Sozialmodells – nach EU-Vorbild. Die Armut konnte drastisch gesenkt werden, eine Mittelschicht wuchs heran.
Als die Mittelschicht nach dem fingierten Machtwechsel von Dmitri Medwedjew zurück zu Putin das Land mit politischen Protesten überzog, zeigte sich Putin beleidigt: "Ich habe euch den Wohlstand gegeben, und ihr rebelliert gegen mich." Inzwischen versucht er aber einen vorsichtigen Dialog mit seinen Kritikern.
Auf dem Weg zur Eurasischen Union
Ein enger Kreml-Vertrauter erzählt, Putin habe sich vollständig auf das Projekt Eurasische Union kapriziert. Er sehe die Chance, als "Wiederaufsammler" russischer Erde in die Geschichte einzugehen. Putin scheint die Ukraine und Weißrussland ähnlich zu sehen, wie Westdeutsche die DDR betrachteten – als künstliche Teilung. Die Eurasische Union wird jedoch keineswegs in Konfrontation zur Europäischen Union konzipiert. Sie soll sich eines Tages mit der EU verflechten – vorausgesetzt, die EU verschmilzt nicht in einer Freihandelszone mit den USA.
Putin will und kann Europa nicht bedrohen. Aber er wird mit der EU keinen Wertedialog über Menschenrechte mehr führen. Die EU solle Maschinen und Kapital liefern, aber keinen Demokratietransfer. Den kritischen Wertedialog empfindet er zunehmend als Versuch, Russland als internationalen Wettbewerber klein zu halten. Putins Problem besteht darin, dass er die europäischen Nichtregierungs-Organisationen (NGOs) und Medien als Instrumente einer fein ausgeklügelten anti-russischen Strategie sieht.
Er versteht das Funktionieren einer europäischen Zivilgesellschaft nicht, legt sich mit einflussreichen Lobbygruppen an, anstatt zu akzeptieren, dass NGOs und Menschenrechtsorganisationen ein integraler Bestandteil westlicher Gesellschaften sind und in eine gesamtstaatliche Kooperation eingebunden werden müssen.
Offenes Ohr für Deutschland
Wenn es Politiker gibt, die Einfluss auf Putin nehmen können, sind es die Bundeskanzlerin und die früheren Gestalter deutscher Ostpolitik. Deutschland bleibt Putins wichtigster Partner im Westen. Wenn er Signale nach außen sendet, tut er dies vom deutschen Boden aus. Dass Chodorkowski nach seiner Begnadigung nach Deutschland ausgeflogen wurde, zeigt, dass Putin über Berlin eine Wiederannäherung an den Westen sucht.
Was geschieht, wenn der momentane Konfliktzustand nach Sotschi bestehen bleibt? Die EU mag darüber lächeln, wenn Putin ihr den Rücken zu kehren und Russland in Asien zu verankern droht. Fakt ist aber, dass Russland sich mit China und Asean institutionell stärker vernetzt hat, während sich seine Bindungen zur EU weiter auflösen.
Die EU muss strategischer mit Putin umgehen. Dazu gehört es, die russischen Interessen zu kennen. Putin ist sich sicher, dass die Europäer angesichts der globalen Herausforderungen, vor denen Ost und West gleichermaßen stehen, nicht anders können, als sich mit Russland zu verbünden.
***
"Русское поле" - информационный портал
Публикация материалов сайта допускается только при указании источника и активной гиперссылки