Sehr geehrte Damen und Herren,
Wir freuen uns, sie bei einer traditionellen Pressekonferenz zu begrüßen, die der außenpolitischen Bilanzierung des vergangenen Jahres gewidmet ist.
Wir möchten, dass dieses Treffen, wie auch frühere, vor allem im Format eines direkten Dialogs stattfindet. Deswegen würde ich versuchen, die Einführung möglichst kurz zu halten, zumal unsere Herangehensweisen zu den wichtigsten aktuellen Problemen von Präsident der Russischen Föderation, Wladimir Putin, mehrmals beleuchtet wurden, darunter bei der Großen Pressekonferenz am 20. Dezember sowie im Rahmen des gestrigen Interviews mit serbischen Medien.
Es wäre überflüssig zu sagen, dass die Lage in der Welt schwierig geblieben ist. Im vergangenen Jahr wuchs das Konfliktpotential. In erster Linie wegen des sturen fehlenden Wunsches einiger Länder des Westens mit den USA an der Spitze die Realitäten der sich objektiv bildenden multipolaren Welt zu akzeptieren, sowie wegen ihres Strebens, weiterhin ihren Willen via gewaltige, wirtschaftliche, propagandistische Hebel aufzudrängen. Wir beobachteten die Versuche, die multilateralen Institutionen unter Kontrolle zu nehmen, ihren zwischenstaatlichen Charakter zu verschwimmen, und die universellen Völkerrechtsnormen durch eine „auf Regeln basierende Ordnung“ zu ersetzen – ein neuer Begriff, der vor kurzem auftauchte und das Streben, verdeckt Regeln ausgehend aus der politischen Konjunktur, als Instrument zum Druckausüben auf unerwünschte Staaten und sehr oft sogar auf eigene Verbündete zu erfinden.
Für Beunruhigung sorgen auch das Streben, verschiedene Nicht-Konsens-Initiativen außerhalb der internationalen Strukturen zu fördern, und die heimlicherweise durch „einen engen Kreis der Ausgewählten“ ausgearbeiteten Beschlüsse als Meinung der ganzen Weltgemeinschaft vorzustellen.
Nicht für mehr Optimismus sorgten auch die einseitigen Handlungen Washingtons, die auf den Bruch der wichtigsten völkerrechtlichen Instrumente der Gewährleistung der strategischen Stabilität gerichtet sind, was gestern bei Konsultationen ziemlich anschaulich bestätigt wurde, die in Genf zwischen Vertretern der Russischen Föderation und den USA zu Problemen stattfanden, die wegen des INF-Vertrags auftauchten. Das alles führt natürlich zur Vertiefung des Mangels an gegenseitigem Vertrauen, Militarisierung des außenpolitischen Denkens.
Unter diesen Bedingungen führten wir den multivektoralen außenpolitischen Kurs, der auf den Schutz der nationalen Interessen der Russischen Föderation gerichtet ist, weiter. Wir förderten die Festigung der positiven Tendenzen in der internationalen Arena, die Suche nach kollektiven Lösungen, der vor allen Staaten stehenden Problemen auf Grundlage des Völkerrechts und strebten im Ergebnis die Förderung des Aufbaus eines gerechteren, demokratischeren, repräsentativeren polyzentrischen Modells der Weltordnung, wie das objektive Realien der modernen Welt erfordern, an. Mit diesen Zielen wirkten wir eng mit den Verbündeten und Partnern in der OVKS, EAWU, GUS, BRICS, SOZ zusammen, arbeiteten konstruktiv in den wichtigsten Strukturen der globalen Führung, vor allem UNO und G20.
Im Rahmen des Vorsitzes Russlands in der Eurasischen Wirtschaftsunion förderten wir die Festigung ihrer internationalen Positionen. Große Aufmerksamkeit wurde der Ankopplung der EAWU an das chinesische Projekt „Ein Gürtel, ein Weg“, der Entwicklung der strategischen Partnerschaft zwischen Russland und ASEAN, darunter im Kontext der Initiative des Präsidenten Wladimir Putin zur Bildung einer Großen Eurasischen Partnerschaft, die auf der Logik der Harmonisierung der Integrationsprozesse beruht und für den Anschluss aller Länder und ihrer Vereinigungen sowie Asiens als auch Europas offen ist, gewidmet.
Der internationale Terrorismus erleidet eine Niederlage in Syrien. Das ließ die syrische Staatlichkeit aufrechterhalten, den Übergang zur Wiederherstellung der Wirtschaft und Rückkehr der Flüchtlinge einleiten. Gemäß den Beschlüssen des in Sotschi stattgefundenen Kongresses des syrischen nationalen Dialogs, führten die Garantieländer des Astana-Prozesses Russland, die Türkei und der Iran eine große Arbeit zur Bildung des Verfassungsausschusses und erreichten die Zustimmung der Regierung und Opposition der Liste seiner potentiellen Mitglieder. Damit wurden die Bedingungen für Beginn des politischen Prozesses in völliger Übereinstimmung mit Resolution 2254 des UN-Sicherheitsrats im Interesse des Erreichens einer nachhaltigen Regelung der syrischen Krise geschafft.
Wir unterstützten positive Tendenzen auf der Koreanischen Halbinsel ausgehend aus der Logik der russisch-chinesischen Roadmap. Das sieht natürlich die Notwendigkeit der gegenseitigen Schritte als Antwort auf konstruktive Handlungen Pjöngjangs vor.
Ein wichtiges Ergebnis des Jahres wurde die Unterzeichnung eines Übereinkommens über den Status des Kaspischen Meeres bei dem 5. Kaspi-Gipfel, das für die Anrainerstaaten ausschließliche Rechte auf dieses einzigartige Gewässer, seine Bodenschätze und andere Ressourcen festlegt.
Wir unternahmen bedeutende Anstrengungen zur Gewährleistung der internationalen Informationssicherheit, des Kampfes gegen Cyberkriminalität. Im Dezember billigte die UN-Vollversammlung auf unsere Initiative zwei entsprechende Resolutionen.
Besondere Aufmerksamkeit wurde der weiteren Entwicklung der Kontakte mit der viele Millionen Menschen umfassenden russischen Welt gewidmet. Ein kennzeichnendes Ereignis war die Durchführung des VI. Weltkongresses der im Ausland lebenden Landsleute am 31. Oktober und 1. November in Moskau.
Wir haben humanitäre, wissenschaftliche und Bildungsverbindungen erweitert, verschiedene Initiativen, die auf die Bekanntmachung der Weltöffentlichkeit mit den besten Errungenschaften der russischen Kultur und Kunst gerichtet sind, unterstützt. Wir leisteten Unterstützung an ausländische Staaten bei der Ausbildung der nationalen Fachkräfte.
Ein auffallendes Ereignis des Jahres war die Fußball-Weltmeisterschaft – ein wahrer Triumph der Volksdiplomatie. Millionen ausländische Gäste kamen nach Russland, sie haben mit eigenen Augen das heutige Russland und seine Bürger gesehen.
In diesem Jahr haben wir es vor, die Anstrengungen in allen wichtigsten Richtungen auszubauen. Zu Prioritäten gehören die Förderung der Aufgabe der Schaffung einer wahr universellen Antiterrorkoalition unter der Schutzherrschaft der UNO, Mobilisierung der internationalen Gemeinschaft zu einem effektiveren Kampf gegen Drogenverkehr und andere Typen der organisierten Kriminalität. Wir werden die Festigung der positiven Tendenzen in Syrien und um die Koreanische Halbinsel, Überwindung anderer Krisen und Konflikte, vor allem im Nahen Osten und Nordafrika sowie in der Ukraine, wo es weiterhin keine Alternative für eine völlige und kontinuierliche Erfüllung der Minsker Vereinbarungen gibt, fördern. Wir sind weiterhin an der Wiederherstellung normaler Beziehungen mit den USA und der EU auf Prinzipien der Gleichberechtigung und gegenseitigen Berücksichtigung der Interessen interessiert. Wir werden natürlich weiter auf eine erhöhte militärische Aktivität der Nato und Annäherung der militärischen Infrastruktur der Allianz an die russischen Grenzen ordnungsgemäß reagieren.
Unsere unbedingte Priorität bleibt die Gewährleistung der Sicherheit des Landes und anderer günstigen äußeren Bedingungen für eine dynamische Entwicklung Russlands, Erhöhung des Wohlstandes unserer Staatsbürger. Wir sind offen für das schöpferische Zusammenwirken mit allen, die bilaterale Beziehungen nicht in Gefangenen der sich ändernden politischen Konjunktur bzw. Instrument zum Erreichen der geopolitischen Vorteile verwandeln, sondern bereit sind, fair zu arbeiten, gegenseitig annehmbare Kompromisse auf Grundlage der gegenseitigen Vorteile zu suchen.
Zum Schluss möchte man natürlich daran erinnern, dass vor einigen Tagen, am 13. Januar der Tag der russischen Presse gefeiert wurde. Ich möchte die Gelegenheit nutzen und alle Anwesenden in diesem Saal, vor allem die Vertreter russischer Medien, und vertreten durch sie die gesamte russische Journalistengemeinschaft zu diesem Berufsfeiertag gratulieren. Wir wissen ihre Arbeit, das Streben, hohe professionelle Standards, Werte eines fairen und unvoreingenommenen Journalismus im globalen Informationsraum zu fördern hoch zu schätzen. Wir sind zur Fortsetzung eines engen, konstruktiven Zusammenwirkens in ganz verschiedenen Formaten bereit. Ich sichere Ihnen zu, dass wir weiterhin große Aufmerksamkeit der Gewährleistung der freien und ungehinderten Tätigkeit der Journalisten widmen, eine effektive Einhaltung der existierenden internationalen Garantien durch alle Staaten anstreben werden.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. Ich bin bereit, ihre Fragen zu beantworten.
Frage: Wenn man die ständige Verlängerung der Untersuchungshaftzeit Konstantin Wyschinskis bedenkt, welche zusätzlichen Maßnahmen wird die russische Seite ergreifen? Käme sein Austausch gegen jemanden infrage? Oder gewisse Gegenmaßnahmen gegenüber ukrainischen Kollegen?
Sergej Lawrow: Wir informierten schon öfter, welche Schritte wir unternehmen, wie wir über entsprechende internationale Organisationen, über Journalistenverbände, aber auch bei unseren bilateralen Kontakten mit anderen Ländern aufrufen, Kiew unter Druck zu setzen, damit es seinen Druck auf den Journalisten für dessen berufliche Tätigkeit unter absolut absurden Vorwand („Staatsverrat“) einstellt.
Ich denke nicht, dass die Idee zum Austausch, die manche möglicherweise für interessant halten, dazu beitragen würde, dass die ukrainischen Behörden ihre Verpflichtungen hinsichtlich der Journalistenarbeit wieder einhalten. Solche Ideen können nur die Kräfte zusätzlich provozieren, die bereit sind, Journalisten als „Wechselmünze“ auszunutzen, um ihre bösen Ziele zu verfolgen. Ich kann Ihnen versichern, dass wir alles tun werden, damit das Recht die Oberhand gewinnt und damit Konstantin Wyschinski wieder freigelassen wird und wieder seinen Beruf ausüben kann.
Das ist nicht das einzige Problem um Journalisten in der Ukraine. Praktisch alle hier vertretenen russischen Medien dürfen in der Ukraine gar nicht oder nur sehr beschränkt arbeiten.
Frage: Falls die USA doch aus dem INF-Vertrag austreten, würde Moskau generell eine Verlängerung des INF-Vertrags erwägen?
Sergej Lawrow: Ich habe schon gesagt, dass gestern konstruktive Initiativen der russischen Seite präsentiert worden sind, die den USA die Möglichkeit geben, sich auf der Expertenebene zu überzeugen, worum es sich in Wirklichkeit bei der Rakete 9M729 handelt, die nach ihrer Auffassung die Bestimmungen des Vertrags verletzt. Aber US-Vertreter sind gekommen, indem sie schon eine im Voraus vorbereitete Position hatten, die nämlich im Ultimatum sowie in der Forderung bestand, dass wir diese Rakete, ihre Startanlagen und alle mit ihr verbundenen Anlagen unter Aufsicht der Amerikaner vernichten. Unsere Fragen, warum die Amerikaner sich unsere Vorschläge nicht überlegen und konkrete Charakteristiken dieser Rakete nicht kennen lernen wollen, blieben ohne Antwort. Unberücksichtigt blieben auch unsere Vorschläge, die wir als Antwort auf die Handlungen machten, zu denen wir bereit sind, um die Befürchtungen der Amerikaner zu zerstreuen, den Zugang auch zu den Informationen zu bekommen, die unsere Probleme im Zusammenhang mit der Einhaltung dieses Vertrags durch die Amerikaner betreffen. Das alles wurde zurückgewiesen. Die Logik aller Herangehensweisen der Amerikaner, die gestern kundgegeben wurden, war nur so: Ihr verletzt den Vertrag, und wir verletzen ihn nicht. Aber wenn man auf einer solchen Position steht, kann man kaum etwas erreichen. Klar ist, dass dies eine Äußerung des Kurses nach der Zerstörung aller Vereinbarungen im Bereich der strategischen Sicherheit ist – nach der Auflösung des ABM-Vertrags. Der INF-Vertrag ist quasi das nächste Opfer. Was den START-Vertrag angeht, so fürchten viele Länder, dass die US-Administration auch daraus aussteigen könnte. Wir hoffen, dass dies nicht so sein wird. Wir sind weiterhin bereit, an der Rettung des INF-Vertrags zu arbeiten.
Ich hoffe, dass die europäischen Länder, die daran wohl mehr als jemand sonst interessiert sind, sich ebenfalls darum bemühen werden, damit sie nicht nur der Position der Amerikaner folgen und in der Nato Erklärungen zustimmen, die die ganze Schuld auf Russland schieben; damit sie nicht die Fakten ignorieren, die wir präsentieren und noch zusätzlich präsentieren könnten. Wir hoffen, dass diese Länder versuchen werden, Washington zu beeinflussen, damit es eine verantwortungsvollere Position gegenüber allen Mitgliedern der Weltgemeinschaft und vor allem gegenüber den Europäern einnimmt.
Was den START-Vertrag angeht, so wissen Sie bestimmt, dass wir vieles dafür tun, dass diverse Störpunkte vom Tisch geräumt werden, und dass wir an seiner Verlängerung interessiert sind. Die Fragen, die wir angesichts der Handlungen der USA haben, damit eine ganze Reihe von strategischen Offensivwaffen unberücksichtigt bleiben und als nichtnukleare Waffen gelten, diese Fragen sind durchaus logisch. Wir haben darüber Experten in den USA und auch anderen westlichen Ländern informiert. Wir hoffen, dass die Professionalität und Verantwortung gegenüber der Weltgemeinschaft in Washington doch die Oberhand gewinnen, so dass es den Dialog über strategische Stabilität fortsetzen wird.
Frage: In den USA gab es viele Fragen in der Hinsicht, dass US-Präsident Donald Trump den Inhalt seiner Gespräche mit dem Präsidenten Russlands, Wladimir Putin, nicht verraten wollte, wie auch seine offiziellen Vertreter. Beeinflusst der Kreml etwa die Transparenz dieser Gespräche?
Sergej Lawrow: Es fällt mir schwer, die Ereignisse in den USA um die Vorwürfe gegen Präsident Trump zu kommentieren, er wäre ein russischer Agent. Aus meiner Sicht erniedrigen die US-Medien dadurch die journalistischen Standards – und das ist schlimm. Ich glaube nicht, dass Journalisten in den USA sich mit diesen Problemen aufrichtig und professionell befassen. Es gibt ja Begriffe wie diplomatische Kultur, Verhandlungskultur, Kultur des Umgangs auf internationaler Ebene. Dabei ist vorgesehen, dass man gewisse Anstandsnormen berücksichtigen und auf eine gewisse Art und Weise vorgehen und Normen einhalten sollte, die es in jedem von den Staaten gibt, die miteinander kommunizieren. Meines Wissens behält die US-Verfassung dem Präsidenten das Recht vor, die Außenpolitik zu bestimmen. Dass dieses Recht vom Kongress angegriffen wird, wissen wir ja. Darüber schreiben viele, auch Ihre Kollegen. Aber das macht diese Attacken nicht verfassungskonform und weniger illegitim. Ich werde nichts dazu sagen, was die US-Administration im Sinne ihrer Vollmachten tut, die der US-Präsident und seine Administration haben.
Da Sie schon dieses Thema angesprochen haben, möchte ich folgendes sagen. Man beschuldigt Maria Butina, dass sie bei ihren Kontakten mit Amerikanern gewisse schlechte Ziele verfolgt hätte. Es wird praktisch jeder russische Staatsbürger beschuldigt, egal ob es sich dabei um eine offizielle Person oder um jemanden handelt, der wie Maria Butina studieren und mit ihren amerikanischen und anderen ausländischen Kollegen kommunizieren möchte. Sie werden beschuldigt, Spionage zu betreiben und gewisse Ziele zu verfolgen, die den Interessen der USA widersprechen würden und illegitim wären. Aber wenn Sie sich das Umfeld amerikanischer Diplomaten in Moskau, ihre russischen Bekannten ansehen, dann sehen Sie, dass die Russen, die von den illegitimen US-Sanktionen getroffen wurden, von amerikanischen Diplomaten besonders aufmerksam beobachtet werden. Aber niemand wirft den US-Diplomaten vor, sie würden mit Personen kommunizieren, mit denen sie nicht kommunizieren dürften und die in den USA als unerwünscht gelten.
Und noch eine Bemerkung – als Beispiel dafür, dass es sich absurde Dinge ereignen. Es sind schon fast zwei Jahre vergangen, seitdem der Staatsanwalt Robert Mueller arbeitet. Er hat ja Dutzende oder sogar Hunderte Menschen befragt, aber keine Informationen gefunden, die den Verdacht einer Absprache zwischen dem US-Präsidenten Donald Trump und der Russischen Föderation bestätigen würden. Es wurden keine Fakten präsentiert, und es gab auch keine „Leaks“, was für das amerikanische politische System sehr merkwürdig ist. Denn normalerweise gehen dort sofort Informationen „verloren“. Es gab gewisse Informationsverluste, und es wurden gewisse Fakten hinsichtlich der Verwicklung der ukrainischen Seite in die US-Wahlkampagne besprochen – aber keineswegs der Russischen Föderation.
Hier ist ein Beispiel: Michael Flynn, der einige Tage lang Sicherheitsberater des Präsidenten Donald Trump war. Es war mir sehr interessant, zu erfahren, wofür konkret er angeklagt wurde. Staatsanwalt Mueller warf ihm zwei Dinge vor: Erstens dass Flynn noch vor dem Amtsantritt des Präsidenten Trump den russischen Botschafter Sergej Kisljak angerufen und ihn gebeten hatte, keine Gegenmaßnahmen nach den Sanktionen zu ergreifen, die Präsident Barack Obama in den letzten Tagen seiner Amtszeit gegen Russland verhängt hatte. Er rief uns auf, nicht den Eskalations- bzw. Konfrontationsweg zu gehen. War das etwa schlecht? Widersprach das etwa den Interessen des amerikanischen Volkes oder der amerikanischen Regierung, dass ein potenzielles Mitglied der US-Administration uns aufrief, der diplomatischen Vertretung der USA in Russland nicht zu schaden? Ihr Eigentum nicht wegzunehmen und die Diplomaten nicht auszuweisen? Das war eine Beschuldigung gegen Michael Flynn. Und die zweite bestand darin, dass er unseren Botschafter Sergej Kisljak gebeten hatte, Moskaus Position zur Resolution zu beeinflussen, die damals im UN-Sicherheitsrat behandelt wurde und Israel aufforderte, den Siedlungsbau auf den okkupierten Territorien zu stoppen. Da die Administration Barack Obamas beschlossen hatte, die Verabschiedung dieser Resolution nicht zu behindern und im Unterschied zu allen früheren Situationen zu diesem Thema nicht dagegen zu stimmen und sich der Stimme zu entziehen, rief Michael Flynn die russische Seite auf, auf sein Vetorecht gegen diese antiisraelische Resolution zurückzugreifen, und dafür wurde er von Robert Mueller angeklagt.
Ich will jetzt nicht darüber reden, ob diese Resolution verabschiedet werden sollte oder nicht. Aber im Grunde rief er die russische Seite auf, die Position, die die USA in der UNO jahrzehntelang vorangebracht hatten, zu verteidigen. Hier sind zwei Beschuldigungen gegen diesen Mann. Ich weiß nicht, zu wie vielen Jahren er verurteilt wird. Aber dass diese Situation absurd ist, ist für mich offensichtlich. Und das ist nur eines der Beispiele für die Wahnsinnssituation um das so genannte „russische Dossier“.
Frage: Russland und Japan begannen eine neue Runde der Verhandlungen zum Friedensvertrag, der auf das Bringen der bilateralen Beziehungen auf ein qualitativ neues Niveau gerichtet sein soll. Der Vertrag soll von beiden Seiten unterstützt werden. Ich sowie anscheinend ganz Japan verstehe nicht, dass sie eine Vorbedingung an uns gestellt haben. Sie besteht darin, dass Japan vor allem alle Ergebnisse des Zweiten Weltkriegs anerkennen muss, darunter die Souveränität der Russischen Föderation über die umstrittenen Inseln. Ist es kein Ultimatum? Denn sie kritisieren gewöhnlich Ultimaten in Diplomatie. Es bildet sich der Eindruck, dass Russland von Japan erneut bedingungslose Kapitulation fordert. Mir ist die Logik der russischen Seite nicht klar. Wir besprechen doch die Zugehörigkeit der Inseln. Wenn Japan die Souveränität Russlands über die Kurilen-Inseln anerkennt, dann wird die Frage geschlossen, und es wird keine Probleme geben. Worüber werden wir dann Verhandlungen führen?
Sergej Lawrow: Ich äußerte mich zu diesem Thema gleich nach den Verhandlungen mit meinem japanischen Kollegen Taro Kono. Ich wiederhole noch einmal. Die Anerkennung der Ergebnisse des Zweiten Weltkriegs ist kein Ultimatum, sondern eine Vorbedingung. Das ist ein unvermeidlicher und unabdingbarer Faktor des modernen internationalen Systems.
Japan wurde bei Unterstützung der Sowjetunion 1956 Mitglied der Vereinten Nationen, unterzeichnete und ratifizierte die UN-Charta, die den Artikel 107 enthält. Demnach sind alle Ergebnisse des Zweiten Weltkriegs unerschütterlich. Deswegen fordern wir nichts von Japan. Wir rufen dazu auf, die praktischen Handlungen unserer japanischen Nachbarn mit ihren Verpflichtungen gemäß der UN-Charta, der Erklärung von San Franzisco und mehreren anderen Dokumenten, darunter die von ihnen erwähnt wurden, in Übereinstimmung zu bringen.
Was bedeutet unsere Position über die Notwendigkeit für Japan, seine Herangehensweisen mit der UN-Charta in Übereinstimmung zu bringen? In der Gesetzgebung Ihres Landes ist der Begriff „nördliche Territorien“ festgeschrieben. Er ist in vielen Gesetzen implementiert, darunter das im September des vergangenen Jahres verabschiedete Gesetz, das die Umsetzung einer gemeinsamen Initiative des Präsidenten Russlands, Wladimir Putin, und des Premiers Japans, Shinzo Abe, über gemeinsame Wirtschaftstätigkeit auf den Inseln an die Notwendigkeit der Rückgabe der nördlichen Gebiete ankoppelt. Das wurde von niemandem vereinbart. Das widerspricht direkt den Verpflichtungen Japans zur UN-Charta.
Das ist also nicht die vorhergehende Forderung, sondern das Streben zu verstehen, warum Japan das einzige Land in der Welt ist, das die Ergebnisse des Zweiten Weltkriegs in vollem Umfang nicht anerkennen kann.
Natürlich gibt es da auch mehrere andere Aspekte. Ich möchte nicht erneut über das Problem der militärpolitischen Allianz mit den USA, Ausbau der US-Stützpunkte auf dem japanischen Territorium sprechen. Das alles wurde ziemlich ausführlich beleuchtet.
Unsere Anführer sprachen auch über die Notwendigkeit einer qualitativen Verbesserung unserer Beziehungen in allen Bereichen, wie sie gerecht sagten: in Wirtschaft, Handel, Kultur, im humanitären und internationalen Bereich. Zur Lösung jeder schwieriger Fragen, nicht nur zum Friedensvertrag – es gibt auch viele andere Fragen, die mit unseren japanischen Kollegen gelöst werden sollen – sollen wir uns natürlich als Partner in der internationalen Arena und nicht als Länder fühlen, die auf verschiedenen Seiten der Barrikaden stehen. Doch Japan schloss sich mehreren Sanktionen an, die gegen Russland eingeführt wurden. Das passt kaum dem Verständnis eines qualitativ neuen Niveaus der Beziehungen. Japan schloss sich den antirussischen Erklärungen der G7. Japan stimmt bei allen Resolutionen der Vereinten Nationen, die Russland interessieren, nicht mit uns, sondern gegen uns.
Vor seiner Russland-Reise war Taro Kono in Paris, wo das Treffen der Verteidigungs- und Außenminister Frankreichs und Japans stattfand. Nach diesem Treffen wurde eine Erklärung verabschiedet. Wenn sie sie lesen, verstehen sie natürlich, dass es für uns noch sehr weit nicht nur bis Partnerschaft in internationalen Angelegenheiten, sondern auch bis zum Verständnis von der Notwendigkeit, nach konstruktiven Herangehensweisen, annähernden Positionen zu suchen, ist.
Ich möchte die Gelegenheit nutzen und darauf aufmerksam machen, dass diese japanisch-französische Erklärung nach dem 2+2-Treffen die Verpflichtung Japans und Frankreichs enthält, ihre Handlungen im Rahmen des Vorsitzes Tokios in der G20 und Vorsitzes von Paris in der G7 zu koordinieren. Bei uns löste das Fragen aus, denn die G7 ist ein Teil der G20. Der G20-Vorsitzende, in diesem Jahr ist es Japan, soll die Bedingungen gewährleisten, die die Ausarbeitung eines Konsenses mit allen 20 Teilnehmerländern ermöglicht und nicht nur auf Interessen einer Gruppe arbeiten, die zur G20 gehört. Hoffentlich war es nur ein Missverständnis bei der sprachlichen Formulierung der Erklärung. In praktischen Schritten gehen wir davon aus, dass japanische Kollegen mit den für sie typischen Professionalismus die Ausarbeitung von Konsensentscheidungen fördern, die Industrie- und Entwicklungsländer umfassen – alle, die zur G20 gehören, sowie die Interessen aller anderen Staaten berücksichtigen werden, weil die Beschlüsse der G20 die Fragen anschneiden, die alle Mitglieder der Weltgemeinschaft betreffen.
Frage: Wie sehen Sie die weitere Entwicklung des Unionsstaates nach den ziemlich harten Äußerungen des Präsidenten von Belarus, Alexander Lukaschenko? Welche weiteren Schritte könnte es geben, wenn eine Seite offensichtlich dagegen ist?
Sergej Lawrow: Ich wundere mich über das große Aufsehen um dieses Thema, darunter in den Medien.
Der Vertrag über die Schaffung eines Unionsstaates ist ein offenes Dokument, das kann sofort nach der Unterzeichnung gelesen werden. Jetzt kann man auch ein Einblick darin gewinnen. Im Dokument ist vieles davon festgeschrieben, was uns einst vereinigte, und zur Schaffung des Unionsstaates bewegte. Der Vertrag sah auch die Verabschiedung eines Verfassungsaktes und Schaffung eines Unionsparlaments und Gerichts des Unionsstaates vor. Damals war das freiwillig zwischen Moskau und Minsk abgestimmt.
Mit der Zeit wurde klar, dass es keine Möglichkeit gibt, gemeinsame Verfassung, gemeinsames Parlament, gemeinsames Gericht zu bilden. Doch wir beharren nicht darauf.
Wir sprachen zusammen mit unseren Kollegen bei den letzten Kontakten unserer Präsidenten (im Dezember des vergangenen Jahres gab es drei solche Treffen) über die Punkte des Unionsvertrags, die im Unterschied von den gemeinsamen Verfassung, Parlament und Gericht konkrete praktische Fragen im Bereich Wirtschaft und Handel betreffen. Es werden die in diesem Vertrag gemeinten Handlungen zur Bildung einer einheitlichen Währung, Kredit- und Steuerpolitik gemeint. Das ist direkt mit den wirtschaftlichen und Finanz-Beziehungen im Rahmen des Unionsstaates verbunden.
Bezüglich der Notwendigkeit zu sehen, wie wir diese rein praktischen und konkreten Schritte erfüllen können, hatten wir keine Auseinandersetzungen mit weißrussischen Kollegen. Wie sie gehört haben, wurde auf Beschluss der Präsidenten Russlands und Weißrusslands eine Arbeitsgruppe unter Leitung der Wirtschaftsminister beider Länder gebildet. Die Gruppe ist beauftragt, sich damit zu befassen, worüber ich jetzt sprach. Wir denken nichts aus. Wir bitten unsere weißrussischen Kollegen angesichts ihres Interesses an mehreren Fragen, die mit der Bestimmung der wirtschaftlichen, Geld-, Kredit- und Steuerpolitik, zu sehen, wie wir uns bei Fragen annähern können, deren Lösung bereits vor 20 Jahren im Unionsvertrag vorgesehen war und die direkt die Sachen betreffen, die Weißrussland lösen will, darunter zu Ergebnissen des so genannten „Steuermanövers“.
Ich hoffe, dass da der Pragmatismus und nicht die Versuche die Oberhand gewinnen, in dieser Arbeitssituation nach irgendwelchen geopolitischen Sinnen innerhalb bzw. außerhalb des Unionsstaates zu suchen.
Frage: Der Bundesaußenminister Deutschlands Sergej Lawrow, sorry Heiko Maas, kommt bald zu einem Besuch nach Russland. Was würden sie mit ihm besprechen?
Sergej Lawrow: Nun wird mir wohl noch vorgeworfen, dass wir Deutschland erobern und überfluten wollen.
Was den Besuch von Heiko Maas betrifft, sagte er selbst, dass wir vor allem die Situation in der Ukraine, in Syrien besprechen werden. Bei beiden Fragen gibt es Lösungen, die erfüllt werden sollen. Wir sind zu einer solchen Diskussion bereit.
Frage: Manche Länder, unter anderem die USA, erkennen Nicolás Maduro nicht als Präsidenten Venezuelas an. Wie ist Russlands Position dazu?
Sergej Lawrow: Unsere Position besteht darin, dass jegliche Einmischung in innere Angelegenheiten souveräner Staaten vermieden werden sollte. Während der ganzen Venezuela-Krise unterstützten wir die Bemühungen (unter anderem der Länder der Region) um den Dialog zwischen der Regierung und der Opposition. Wir wissen, dass dieser Dialog, mit dem viele lateinamerikanische Länder gerechnet hatten, am Ende gescheitert ist, weil die so genannte „unversöhnliche“ Opposition aus dem Ausland beeinflusst wurde, vor allem aus den Vereinigten Staaten. Dieser Einfluss machte diesen Teil der Opposition eben „unversöhnlich“. Das ist sehr bedauernswert. Wir hörten Äußerungen, dass eine militärische Einmischung in Venezuela möglich wäre, dass die USA jetzt nicht Nicolás Maduro, sondern den Parlamentsvorsitzenden Juan Guaidó als Präsidenten anerkennen könnten. Das ist sehr beunruhigend und zeugt davon, dass die Politik zwecks Entmachtung von „unerwünschten“ Regierungen zu den Prioritäten der USA in Lateinamerika und anderen Regionen gehört. Darüber können wir später ausführlich sprechen.
Frage: In Brasilien wurde neulich Jair Bolsonaro als Präsident vereidigt. Man nennt ihn „den tropischen Trump“. Gibt es Befürchtungen, dass er sich für die BRICS-Mitglieder als eine Art „Trojanisches Pferd“ erweisen könnte?
Sergej Lawrow: Der brasilianische Präsident Jair Bolsonaro hatte Kontakte mit unseren Vertretern, unter anderem mit dem Vorsitzenden der Staatsduma, Wjatscheslaw Wolodin, der unser Land bei seinem Amtsantritt vertrat. Er bestätigte sein Interesse an der Nachhaltigkeit der Beziehungen mit Russland und an der Teilnahme an der weiteren Entwicklung der BRICS-Gruppe, in der Brasilien in diesem Jahr den Vorsitz gehört. Erst vor einigen Tagen erzählten uns unsere brasilianischen Kollegen über ihre Pläne auf diesem Posten, über den Zeitplan der Ministersitzungen, des Gipfeltreffens und über das Programm, das sie den anderen Mitgliedern dieser Vereinigung bieten. Ich sehe keinen Grund, zu vermuten, dass Brasilien in der BRICS-Gruppe eine destruktive Rolle spielen könnte. Im Gegenteil: Man sagt uns, dass diese Vereinigung zu den außenpolitischen Prioritäten Brasiliens gehört.
Frage: Auf die Frage über das Schicksal Paul Whelans, der schon offiziell wegen Spionage angeklagt wurde, antwortete Ihr amerikanischer Amtskollege vorsichtig, er könne nicht über einzelne Details und Einzelheiten dieses Falles reden. Könnten Sie vielleicht etwas Neues dazu sagen? Wollen etwa US-Diplomaten ihn tatsächlich demnächst besuchen? Gab es Gespräche über irgendein Tauschgeschäft? Vielleicht wurde das zum Grund für eine neue Runde des diplomatischen Drucks auf Russland? Versuchen vielleicht die drei weiteren Länder, die erklärten, Paul Whelan wäre ihr Staatsbürger (Kanada, Großbritannien und Irland), die Situation zu beeinflussen?
Sergej Lawrow: Paul Whelan wurde bereits vom US-Botschafter, Jon Huntsman, besucht. Er auch ein Diplomat aus Irland hat ihn besucht bzw. will ihn besuchen. Es gab auch einen Antrag zu einem weiteren Besuch von Vertretern der US-Botschaft, und dieser wurde auch befriedigt. Die Briten erwähnen überhaupt nicht, dass es zwischen Moskau und London die Konsularische Konvention von 1965 gibt, in deren Rahmen ein solcher Zugang gewährleistet werden sollte. Im bilateralen Format wandte man sich an uns im Kontext dieser Konvention nicht – wohl weil unsere zahlreichen Anträge zum Besuch von Julia und Sergej Skripal ignoriert oder aus formellen Gründen zurückgewiesen wurden. Offenbar verstehen die Briten selbst, dass sie diese Konvention im Grunde selbst null und nichtig gemacht haben. Aber falls wir einen solchen Antrag bekommen, werden wir uns höflicher verhalten – das kann ich Ihnen versichern.
Was die Situation selbst angeht, so berichteten unsere zuständigen Behörden über die Umstände, unter denen Paul Whelan festgenommen worden war. Seine Familie wurde über diese Situation und die Bedingungen, unter denen er gehalten wird, informiert. Er hat keine Beschwerden über diese Bedingungen. Aber dass die Länder, deren Staatsbürger er ist, unter anderem Kanada, seine unverzügliche Freilassung verlangen, wobei manche sogar mit Sanktionen drohen, ist sehr bedauernswert. Ich will jetzt nicht einmal über die Russen reden, die in amerikanischen Gefängnissen gehalten werden, mit denen niemand Mitleid hat, wobei ihre Anklagen in den meisten Fällen aus dem Finger gesogen sind oder unbewiesen bleiben.
Paul Whelan wurde unmittelbar während einer rechtswidrigen Aktion in einem Hotel festgenommen. Darüber wurde auch berichtet. Übrigens werden in russischen Gefängnissen bzw. Untersuchungsgefängnissen ungefähr 20 US-Staatsbürger gehalten, von denen mehr als die Hälfte keine zweite Staatsbürgerschaft hat. US-Diplomaten bekommen regelmäßig den Zugang zu ihnen – auf entsprechende Anträge der US-Botschaft. Und über niemanden von ihnen hörten wir vorlaute Erklärungen wie im Fall Paul Whelans. Das sind auch quasi Informationen zum Nachdenken.
Der Fall wird ermittelt. Falls Sie mit Ihrer Frage meinen, dass Paul Whelans Festnahme das Ziel verfolgen könnte, ihn gegen jemanden von unseren Mitbürgern auszutauschen, dann stimmt das absolut nicht. Wir beschäftigen uns nie mit solchen Dingen. Er wurde auf frischer Tat erwischt.
Frage: Die russische Diplomatie hat im vorigen Jahr große Erfolge in Syrien erreicht. Wie wird das Vorgehen im Geiste der Einheit und des Kampfes der Gegensätze östlich vom Euphrat sein, nachdem die US-Truppen abgezogen werden?
Sergej Lawrow: Das ist eine sehr wichtige Frage. Im Allgemeinen werden bei der Syrien-Regelung Fortschritte gemacht. Zwar langsamer als man wünschte, und es gibt dabei Probleme, die man nicht immer vorhersehen kann. Dennoch sind die Fortschritte offensichtlich. Wir sind überzeugt, dass der Kampf gegen den Terrorismus bis zum siegreichen Ende geführt werden muss. Aktuell ist der größte Terrorherd die Idlib-Zone, wo praktisch alle Kämpfer von der al-Nusra-Front kontrolliert werden – die verbotene Organisation, die vom UN-Sicherheitsrat als terroristische anerkannt wurde. Wir sind an der Erfüllung der Vereinbarungen sehr interessiert, die zwischen Russland und der Türkei hinsichtlich Idlibs getroffen wurden. Sie sehen aber keine Bewegungsfreiheit der Terroristen vor, die nach wie vor die Stellungen der syrischen Truppen und zivile Objekte aus Idlib beschießen (unter anderem aus der demilitarisierten Zone) und versuchen, den russischen Fliegerstützpunkt „Hmeimim“ anzugreifen.
Wir hoffen, dass in der nächsten Zeit Kontakte zwischen den Präsidenten Russlands und der Türkei, Wladimir Putin und Recep Tayyip Erdogan, stattfinden werden. Sie sind schon geplant. Und das wird das zentrale Thema ihrer Verhandlungen sein.
Was das östliche Euphrat-Ufer angeht, so haben die USA tatsächlich ihren Rückzug aus diesem Gebiet angekündigt. Es ist aber kein Geheimnis, dass sie dort ein paar Dutzende Militärobjekte eingerichtet haben, unter anderem ziemlich große Stützpunkte. Es ist auch kein Geheimnis, dass sie dort kurdische Selbstverteidigungskräfte mit Waffen versorgten. Es stellt sich nämlich die Frage, auch bei unseren türkischen Kollegen: Was wird mit diesen Waffen und Militärobjekten? Wir sind überzeugt, dass der optimale und einzig richtige Ausweg die Überlassung dieser Territorien unter Kontrolle der syrischen Regierung, der syrischen Regierungstruppen und bewaffneten Strukturen wäre, wobei für die Kurden die nötigen Lebensbedingungen in den Gebieten geschaffen werden sollten, wo sie schon immer leben.
Wir begrüßen und unterstützen die eben begonnenen Kontakte zwischen kurdischen Vertretern und den syrischen Behörden, deren Ziel ist, eine Einigung hinsichtlich der Normalisierung des Lebens im einheitlichen Staat ohne äußere Einmischung zu erreichen.
Es gibt es Problem, das mit den Plänen der Amerikaner verbunden ist. Zunächst wurde erklärt, sie würden sich in zwei Monaten zurückziehen, dann nicht in zwei, sondern in sechs Monaten, und dann wurde gesagt, der Rückzug könnte verschoben werden. Ich erinnere mich an Mark Twain, der sagte: „Es gibt nichts Leichteres als Rauchen aufgeben – ich habe das sehr oft gemacht.“ Das ist auch eine Art amerikanische Tradition.
Man darf noch einen problematischen Moment nicht übersehen: die von den Amerikanern illegal eingerichtete Zone At-Tanf, deren Radius 55 Kilometer beträgt. Dort liegt das Flüchtlingslager „Rukban“, zu dem es praktisch keinen Zugang gibt. Ein humanitärer Konvoi, der vor einigen Wochen unter unserer Mitwirkung und auf Zustimmung der syrischen Regierung organisiert wurde, erreichte diese Zone, aber er – und Vertreter des syrischen Roten Halbmondes – wurde nicht unmittelbar zu den Flüchtlingen zugelassen, obwohl uns die USA das versprochen hatten. Die Kontrolle über den Konvoi bekamen die Kämpfer, die unter anderem mit Terroristen verbunden sind, die in At-Tanf leben, ganz ruhig trainieren und die materielle und sonstige Unterstützung bekommen. Niemand weiß genau, was mit diesen humanitären Hilfsgütern passiert ist – ob die Flüchtlinge sie bekommen haben, oder ob die Kämpfer sie jetzt nutzen. Jetzt plädieren unsere Kollegen in der UNO für die Entsendung eines neuen Konvois. Die Situation ist aber frappant: Dort leben 30 000 bis 50 000 Flüchtlinge, zu denen es keinen Zugang gibt. Wir unterstützen die Position der syrischen Regierung und bestehen auf der absoluten Sicherheit und Transparenz, damit Maßnahmen ergriffen werden, so dass wir uns vergewissern können, dass Flüchtlinge und keine Mitglieder von illegalen bewaffneten Formationen diese Güter bekommen.
Außerdem tragen die USA als Land, das diesen Teil Syriens besetzt hat, die volle Verantwortung für das Schicksal und die Lebensbedingungen der dort lebenden Zivilisten. Denn schließlich werden die US-Militärs in At-Tanf vom irakischen Territorium versorgt. Wenn Lebensmittel und Gebrauchsgüter für US-Militärs dorthin geliefert werden, dann sollte es kein Problem sein, auch die Flüchtlinge über diese Wege zu versorgen.
Frage: Das kurdische Volk lebt bekanntlich in verschiedenen Nahost-Ländern. Die Kurden beklagen sich, dass bisher niemand ihre politischen Fragen aufgeworfen und versucht hätte, ihre Probleme zu lösen. Wie ist Ihre Position zu ihrer Zukunft in Syrien und im Irak?
Sergej Lawrow: Unsere Position ist ganz einfach: Alle Fragen, die im Zusammenhang mit der kurdischen Bevölkerung in Syrien, im Irak oder sonst wo entstehen (das sind ja nicht die einzigen zwei Länder, wo sie leben), sollten in Übereinstimmung mit nationalen Gesetzen der entsprechenden Länder geregelt werden.
Die Rechte der nationalen Minderheiten (und die Kurden sind eine solche im Irak und in Syrien) sollten natürlich durch den Dialog zwischen ihnen, ihren Vertretern und zentralen Regierungen eingehalten werden. Wir treten entschlossen dafür ein, dass die territoriale Integrität aller Staaten dieser Region respektiert und aufrechterhalten wird. Diese beiden Länder wurden ohnehin in den letzten Jahren sehr schweren Erprobungen ausgesetzt, die mit der Aggression gegen den Irak, dann gegen Libyen und jetzt gegen Syrien verbunden waren. Meines Erachtens zeigen die Kurden sowohl in Syrien als auch im Irak Verständnis dafür, dass solche Vereinbarungen mit der zentralen Regierung nötig sind, dass sie beiderseitig akzeptabel sein sollten, dass sie ihre Interessen berücksichtigen und die territoriale Integrität der entsprechenden Staaten nicht verletzen.
Frage: Vertreter des Außenministeriums, insbesondere der Vizeaußenminister Russlands, Alexander Gruschko (erst gestern), übten öfter Kritik an der Veränderung des Namens unseres Nachbarstaates – der früheren jugoslawischen Teilrepublik Mazedonien. Sie erwähnten mehrmals die entsprechende Entscheidung des UN-Sicherheitsrats. Könnten Sie bitte präzisieren, was die russische Diplomatie meint, wenn sie sich ausgerechnet auf diese Entscheidung des UN-Sicherheitsrats beruft? Wollen sie etwa die Umsetzung des Prespa-Abkommens behindern? Sind Sie damit unzufrieden?
In diesem Zusammenhang möchten wir die Situation auf dem Balkan verstehen. Sie kritisieren die USA und die Nato für die Erweiterung ihrer Positionen auf dem Balkan und nicht nur dort. Die USA und die Nato erwidern, dass sie nur versuchen, Ihr aggressives Vorgehen in der Region zu unterbinden. Was passiert in Wahrheit?
Sergej Lawrow: Das ist eine gute Frage. Ich habe noch nie gehört, dass die Umsetzung der Beschlüsse des UN-Sicherheitsrats als Versuch zur Behinderung der Regelung der Frage gedeutet würde, der diese Resolutionen gewidmet sind – ich meine die Resolutionen, die den Weg für die Vermittlung der UNO bei der Absprache des Namens „Mazedonien“ zwischen Skopje und Athen freimachten. Wir unterstützten immer diesen Dialog und plädierten immer dafür, dass eine solche Lösung gefunden wird, die für die Öffentlichkeit, für die Völker und natürlich für die Regierungen Griechenlands und Mazedoniens akzeptabel wäre.
Wir sind nicht gegen den Namen, der vereinbart und verkündet wurde. Wir fragen lediglich, inwieweit legitim dieser Prozess ist und inwieweit er sich auf die Suche nach dem Konsens zwischen Athen und Skopje zurückführen lässt – oder darauf, was Sie eben sagten: die Bemühungen der USA darum, dass alle Balkan-Länder in die Nato getrieben werden, um Russlands Einfluss in dieser Region zu unterbinden. Das ist, worüber wir sprachen.
Natürlich können wir nicht denjenigen zustimmen, die sagen, für Russland gäbe es keinen Platz auf dem Balkan, wie die EU-Beauftragte für Außen- und Sicherheitspolitik, Federica Mogherini, unlängst sagte. Sie sagte nämlich, dass auf dem Balkan schon die EU handele, so dass niemand sonst dort etwas zu suchen hätte. Als wir uns aber im Dezember am Rande des Treffens in Mailand trafen, behauptete sie, sie wäre falsch verstanden worden. Aber sie wurde wohl deswegen falsch verstanden, weil dort nicht nur die EU, sondern inzwischen auch die Nato die Führungsrolle spielt. Wo es die EU gibt, wirtschaftliche sich immer Platz auch für die Nato finden, wobei sie wohl einen vorrangig wichtigen Platz einnehmen wird.
Wir wollten schon immer, dass die Position des UN-Sicherheitsrats respektiert wird. Sie bestand darin, dass Entscheidungen legitim sein müssten. Wenn ein Name durch ein Dokument bekräftigt wird, das auf einer anderen Ebene unterzeichnet wurde als beispielsweise die Verfassung Mazedoniens verlangt, müssen wir fragen, ob und inwieweit legitim dieser Prozess ist. Wenn das mazedonische Parlament ein Gesetz über die Novellierung der Verfassung und gleichzeitig ein Gesetz über Sprachen verabschiedet, das aber der mazedonische Präsident Gjorge Ivanov nicht absegnen will, was die Verfassung verlangt, ruft das bei uns auch Fragen hervor. Wenn man uns alle möglichen Sünden und alle möglichen Probleme vorwirft, die es auf dem Balkan gibt bzw. geben könnte, haben wir die Frage: Und was halten unsere westlichen Kollegen von der unverschämten Kampagne, die im Westen im Vorfeld des Volksentscheids in Mazedonien begann? Damals besuchten verschiedene Ministerpräsidenten der EU-Länder, der Nato-Generalsekretär, die Führung der EU-Kommission und der EU im Allgemeinen Skopje und riefen dazu auf, dass die Einwohner für die Nato- und EU-Mitgliedschaft stimmen sollten, und zwar durch die Veränderung des Namens „Mazedonien“. Sie agitierten doch dafür, nicht wahr? Nicht für einen Namen, der Mazedonien und Griechenland versöhnen würde, sondern dafür, dass die Menschen für die Mitgliedschaft in den euroatlantischen Strukturen stimmen – durch die Veränderung des Namens. Für mich ist die Unfairness einer solchen Vorgehensweise offensichtlich.
Ich erwähnte schon im Einführungswort die Tendenz, die in der Vorgehensweise der USA und ihrer nächsten Verbündeten zu sehen ist: Sie versuchen, den Begriff „Völkerrecht“ durch eine gewisse Ordnung zu ersetzen, die sich auf Regeln stützen würde. Was die Mazedonien-Frage, nämlich den Namen „Mazedonien“ angeht, so gibt es die entsprechende Resolution des UN-Sicherheitsrats, die Teil des Völkerrechts ist, das verlangt, die Verfassungen Griechenlands und Mazedoniens zu respektieren und nach Auswegen in diesem Rahmen zu suchen. Aber statt der rechtlichen Vorgehensweise, die Verabschiedung eines Gesetzes vorsieht, das vom Präsidenten Mazedoniens zu signieren wäre, sehen wir nicht die rechtliche, sondern die „richtige“ Vorgehensweise. Es wurde nämlich die Regel erfunden, der zufolge – und wider die Mazedonien Verfassung – die Entscheidung auf dem Niveau der Minister und nicht der Präsidenten unterzeichnet werden könnte, wobei man die Ergebnisse des Referendums nicht berücksichtigen könnte usw. Die Regeln, die auf dem Balkan – und nicht nur dort – gerade vorangebracht werden, sind ziemlich gefährlich und widerspiegeln die Realität, die Absicht, alle Balkan-Länder möglichst schnell in die Nato zu treiben.
Ich habe vor einigen Tagen gelesen, dass in den USA schon seit langem eine ziemlich kritische Diskussion über Bosnien-Herzegowina geführt wird, wobei man behauptet, die Serben würden in Bosnien eine destruktive Rolle spielen. Vor kurzem verwies eine Denkfabrik in den USA darauf, dass es an der Zeit wäre, die Dayton-Vereinbarungen aufzugeben, weil die Serben den Nato-Beitritt Bosnien-Herzegowinas behindern würden. Es wurde also wieder das Ziel gesetzt: nicht der Wohlstand Bosnien-Herzegowinas und aller drei Völker, die diesen Staat bilden, sondern der Nato-Beitritt Bosnien-Herzegowinas. Und da können wir eben nicht zustimmen, denn das ist die Mentalität des vorigen oder sogar vorvorherigen Jahrhunderts. In einer Situation, wenn wir alle das Ziel gesetzt haben, einen gemeinsamen wirtschaftlichen, humanitären Raum zu bilden und uns um eine unteilbare und gleiche Sicherheit im euroatlantischen Raum zu kümmern, wird auf diese Weise das Völkerrecht durch die Regeln ersetzt, die nicht universal sind, sondern vor allem die Interessen der Nato berücksichtigen. Und solche Beispiele gibt es viele.
Frage (übersetzt aus dem Englischen): Die britische Ministerpräsidentin Theresa May hat bestätigt, dass der konsularische Zugang zu Paul Whelan beantragt worden sei. Allerdings habe man ihnen gesagt, sie würden ihn nur dann bekommen, wenn Russland den konsularischen Zugang zu Sergej und Julia Skripal bekomme. Warum gibt es keine Klarheit über die Anklage gegen Paul Whelan?
Sergej Lawrow: Ich sagte anders. Ich sagte, dass das Vereinigte Königreich sich weigert, seine Verpflichtungen im Sinne der Konsularischen Konvention von 1965 zu erfüllen. Und ich sagte, dass ich bis dato nicht gehört habe, dass die britische Botschaft uns um den konsularischen Zugang zu Paul Whelan im Sinne der erwähnten Konvention gebeten hätte. Aber ich ergänzte zugleich, dass wir im Falle eines solchen Antrags genauso handeln würden wie unsere britischen Kollegen. Wir werden in Übereinstimmung mit unseren Verpflichtungen im Sinne der Konvention über diplomatische Anstandsnormen vorgehen.
Was die Informationen angeht, was Paul Whelan vorgeworfen wird, so wurden sie präsentiert. Er stellte anderen Seiten Informationen zur Verfügung, die er ihnen zur Verfügung nicht stellen durfte. Genauer gesagt, bekam er diese Materialien, soweit ich verstehe. Aber glauben Sie mir: Es gibt viel, viel mehr Informationen dazu, was mit Paul Whelan passiert, als Informationen über den Aufenthalt von Sergej und Julia Skripal. Das ist ja absolut unerhört: es ist schon nahezu ein Jahr vergangen, seitdem man uns keine Möglichkeit gibt, unbeachtet unserer zahlreichen Anträge im Sinne der erwähnten Konsularischen Konvention sie zu besuchen, und verschweigt, wo sie sich überhaupt befinden. Also haben wir mehr als genug Gründe, das Vorgehen der britischen Justiz infrage zu stellen. Allerdings sind wir dafür, dass alle Fragen im Rahmen des Dialogs und unter Berücksichtigung der Interessen voneinander gelöst werden sollten. Es ist natürlich inakzeptabel, dass man sich Russland wie ein Land behandelt, dem niemand etwas schuldet, das aber allen etwas schuldet (das bemerkten wir manchmal am Verhalten mancher von unseren westlichen Kollegen). Lassen Sie uns zusammenwirken, und zwar gleichberechtigt.
Frage: Der Handelsumsatz zwischen Russland und China schlug im vergangenen Jahr den historischen Rekord und stieg auf mehr als 100 Mrd. Dollar. China ist Russlands größter Handelspartner. Wie ist es um die Aussichten der Entwicklung der Wirtschaftsbeziehungen zwischen Russland und China bestellt?
Sergej Lawrow: Wir erreichten in diesem Jahr tatsächlich ein Rekordniveau des Handelsumsatzes. Das ist bei weitem nicht die Obergrenze. Wir haben ziemlich ambitionierte Pläne mit unseren chinesischen Freunden. Sie wurden während des Treffens des Präsidenten Russlands, Wladimir Putin, und des Vorsitzenden der Volksrepublik China, Xi Jinping, während des Besuchs Wladimir Putins in China im Sommer dieses Jahres und des Besuchs Xi Jinpings in der Russischen Föderation im Rahmen der Östlichen Wirtschaftsforums sowie während der Kontakte unserer Anführer am Rande der internationalen Veranstaltungen der BRICS, G20 u.a. besprochen. Unsere Wirtschaftsvertreter, die die Treffen der Regierungschefs vorbereiten, treffen sich regelmäßig. Bei einem weiteren solchen Treffen wurde die Bilanz der Arbeit von rund 60 Strukturen gezogen, die sich mit verschiedenen Richtungen und Bereichen unseres Zusammenwirkens befassen. Rund 70 Projekte im Wert von mehr als 100 Mrd. Dollar in ganz verschiedenen Bereichen bekamen ihre Unterstützung, darunter Energie, darunter nukleare, Landwirtschaft, Verkehr, Kooperation im All. Wie sie wissen, koordinieren unsere Weltraumbehörden die Tätigkeit der globalen Navigationssysteme GLONASS und Beidou. Ich denke, dass die Aussichten im handelswirtschaftlichen und Investitionsbereich bei uns ziemlich groß sind.
Ich soll ebenfalls unser enges Zusammenwirken und Koordinierung unserer Herangehensweisen bei internationalen Angelegenheiten – Kooperation im Rahmen des BRICS, SOZ, das Zusammenwirken im Kontext der Entwicklung der Verbindungen und Harmonisierung der Prozesse im Einheitlichen Wirtschaftsraum und im Rahmen des chinesischen Konzeptes „Ein Gürtel, ein Weg“ erwähnen. In der UNO, darunter im Sicherheitsrat haben wir gemeinsame Herangehensweisen bei der Konfliktregelung auf Grundlage des Völkerrechts und Dialogs ausschließlich mit politischen Methoden, ob beim Thema Syrien und andere Konflikte im Nahen Osten oder Probleme der Koreanischen Halbinsel. Wir haben sehr sichere und kontinuierliche Entwicklung der Beziehungen in allen Richtungen.
Frage: Im nächsten Monat organisieren die USA in Polen einen Nahost-Gipfel, der vorwiegend dem Thema Iran gewidmet sein wird. Wird da ein Vertreter der Russischen Föderation anwesend sein? Wie schätzen Sie die Idee seiner Durchführung angesichts der Tatsache, dass der von den USA organisiert wird, aber in Polen? Einige Medien nannten ihn antiiranisch.
Sergej Lawrow: Ich möchte gerade fragen, von wem er doch organisiert wird, denn das polnische Außenministerium berichtete, dass es eine gemeinsame amerikanisch-polnische Initiative ist, und der US-Außenminister Mike Pompeo während seiner Nahost-Reise sagte, dass es die USA sind, die einen Gipfel in Polen austragen. Wir bekamen tatsächlich eine Einladung, Beschreibung der Tagesordnung, die vor allem die Besprechung der Konflikte in Syrien und im Jemen, Probleme des iranischen Raketenprogramms, Handlungen Irans in der Region umfasst.
Wenn die allgemeine Bezeichnung des Forums „Probleme der Nahostregion“ ist, fehlt dort wohl das Hauptthema – arabisch-israelische, darunter palästinensisch-israelische Regelung, das ausgeklammert wurde. Wie sie selbst bereits sagten, entsteht der Eindruck, dass die ganze Tagesordnung auf die Förderung der US-Herangehensweisen zur Abschreckung des Irans in dieser Region gerichtet ist. Das ist die offizielle Position der USA. Diese Veranstaltung in Warschau ist auf das Erreichen dieses Ziels gerichtet.
Uns verwirrt auch die Tatsache, dass in der Einladung betont wurde, dass sich die Minister der Teilnehmerländer keine Sorgen bezüglich des Schlussdokuments machen sollen, weil die Kovorsitzenden, die USA und Polen, es selbst erstellen und als gemeinsame Erklärung ankündigen werden, ohne Möglichkeit für andere eingeladene Länder, ihren Beitrag zum Schlussdokument zu leisten. Offen gesagt, ist das in internationalen Angelegenheiten nicht sehr verbreitet. Es stellt sich heraus, dass rund 50 Minister eingeladen wurden, um mit ihrer Anwesenheit das Dokument „einzuweihen“, das die USA selbst schreiben werden, bei aller Achtung vor Polen. Ausgehend aus diesen Aspekten haben wir große Zweifel daran, dass solche Veranstaltung einer konstruktiven Lösung der Probleme der Nahostregion helfen wird.
Was den iranischen Aspekt und den möglichen Einfluss auf die Beziehungen zu Polen betrifft, sind es ihre bilateralen Angelegenheiten.
Frage: Ich möchte nach dem Schicksal eines konkreten Menschen fragen. Sie haben heute mehrmals über die Staatsbürger Russlands gesprochen, deren Interessen Moskau kontinuierlich verteidigt, deren Rechte in verschiedenen Ländern verletzt wurden. Dieser Mann heißt Marat Ujeldanow-Galustjan, der mehr als zwei Jahre im Gefängnis im benachbarten Aserbaidschan nach einer manipulierten Klage sitzt. Die aserbaidschanische Seite ignoriert zynisch alle Bitten und Appelle seitens Russlands über die Auslieferung dieses Menschen. Welche Maßnahmen werden unternommen, um Galustjan zu helfen?
Sergej Lawrow: Die Fragen, die unsere Staatsbürger betreffen, die sich in einer schweren Lage im jeweiligen Land erweisen, darunter in GUS-Staaten, werden bei unseren bilateralen Kontakten regelmäßig angeschnitten. Ich kann Ihnen zusichern, dass konkret dieses Thema bei unseren jüngsten Verhandlungen mit aserbaidschanischen Kollegen besprochen wurde. Hoffentlich werden wir es via Dialog und die sich auf Rechtsnormen stützenden Lösungen ein Ergebnis erreichen, das allen passt, und diesen Staatsbürger zurück nach Russland bringen.
Frage: Ende des vergangenen Jahres haben Sie im Interview mit der Agentur RIA Novosti gesagt, dass Sie in der Ukraine die Ankunft „adäquater Politiker“ mit einer verantwortungsvollen Wahrnehmung der Realität erwarten. Könnten Sie die Kriterien der „Adäquatheit“ aufzählen?
Sergej Lawrow: Ich denke, dass es in jedem Land einen Wunsch gibt, adäquate Politiker zu sehen. Was die jetzige Situation in der Ukraine betrifft, bin ich bei weitem nicht der Einzige, der dort adäquate Politik sehen will. Es reicht einfach, sich die ukrainischen Massenmedien und einige Webseiten anzusehen.
Was die Kriterien der Adäquatheit betrifft, ist es der Respekt eigener Verpflichtungen, Verfassung und Gesetze. Alles, beginnend mit dem verfassungswidrigen Staatsstreich, als Nationalisten an die Macht kamen und offen forderten, wie das Dmitri Jarosch machte, die Russen zu vernichten bzw. aus der Krim zu vertreiben, ist inadäquat. Uns schien die Position von Petro Poroschenko adäquat, als er noch für den Präsidentschaftsposten kandidierte, als er sagte, dass er der „Präsident des Friedens“ sein wird. Doch als der Staatschef der Ukraine wurde, sagte er nicht mehr solche Worte und sagt mehr kriegerische Erklärungen, Versprechen, die so genannten „besetzten Territorien“ zu befreien, weigert sich kategorisch, das zu erfüllen, was er selbst unterzeichnete – die Minsker Vereinbarungen. Weitere Beschlüsse, die von Anführern des „Normandie-Formats“ getroffen wurden, wurden ebenfalls sabotiert, darunter die Trennung der Kräfte und Mittel in den Ortschaften Luganskaja, Petrowskoje und Solotoje und die Steinmeier-Formel über einen Zusammenhang zwischen dem Gesetz über den Sonderstatus der einzelnen Gebiete von Donezbecken und Durchführung der Wahlen dort.
Ich kann lange zu diesem Thema sprechen. Wir haben viele Fakten. Was Adäquatheit betrifft, ist eines der Kriterien, eigene Verfassung und die durch internationale Konventionen übernommenen Verpflichtungen zu erfüllen. Das ukrainische Bildungsgesetz, der Gesetzentwurf über den Status der ukrainischen Sprache als Amtssprache verletzt direkt die Verfassung der Ukraine. Sie wissen das sehr gut. Sie verletzen auch die internationalen Verpflichtungen der Ukraine. Im Dezember lehnte die Oberste Rada die Empfehlungen der Kommission von Venedig des Europa-Rats ab, die unter anderem die Abschaffung des Artikels 7 des Bildungsgesetzes forderte. Verpflichtungen bestätigen die Verhandlungsfähigkeit der Menschen.
Frage: Warum weigert sich Russland, die russischen Staatsbürger aus der Ukraine nach Russland aufzunehmen? Die Ukraine hat doch vorgeschlagen, Kirill Wyschinski gegen Roman Suschtschenko auszutauschen. Das ist allgemein bekannt, doch in dieser Liste gibt es noch Dutzend Personen. Die Ukraine schlägt einen Austausch vor. Sie gehen darauf nicht ein.
Sergej Lawrow: Vor etwas mehr als einem Jahr, im Dezember 2017, wurde unter Teilnahme von Wiktor Medwedtschuk, eine Vereinbarung über den Austausch erreicht. Es wurden die Listen abgestimmt. Sie wurden mehrmals überprüft. Alles wurde abgestimmt. Am Tag des Austauschs, als Menschen schon an den Ort gebracht wurden, wo sie sich in die Verkehrsmittel setzen und in die Heimat zurückkehren sollten, sagte die ukrainische Seite am Ort des Austausches der Gefangenen und Festgenommenen, dass 23 Menschen, die zur Übergabe an Russland vereinbart wurden, nicht übergeben werden. Die Gründe will ich jetzt nicht besprechen. Das sind Gespräche, die die Sache nicht betreffen. Es wurde gesagt, dass diese Menschen nicht mit den Ereignissen im Donezbecken verbunden sind. Die Listen wurden mehrmals überprüft, die Familiennamen wurden abgestimmt, die Ukraine erfüllte wieder einmal nicht ihr Versprechen.
Wir unterstützen weiterhin Prozesse, die den Gefangenenaustausch im Donezbecken gemäß den Minsker Vereinbarungen nach dem „Alle gegen alle“-Prinzip fortsetzen sollen. In der Kontaktgruppe werden diese Fragen besprochen, doch wir sehen da keine besonders konstruktive Arbeit seitens der Vertreter der ukrainischen Regierung.
Was die Personen betrifft, die in der Russischen Föderation ohne Bezug auf die Ereignisse im Donezbecken festgenommen wurden, haben wir den Menschenrechtsbeauftragten, in der Ukraine gibt es auch den Menschenrechtsbeauftragten der Obersten Rada, Ljudmila Denissowa. Wie ich verstehe, befindet sie sich jetzt in der Russischen Föderation. Sie führen einen Dialog zu diesem Thema. Hoffentlich wird er auch ergebnisreich sein. Wenn es gelingt, Vereinbarungen zu erreichen, werden sie erfüllt.
Frage: Eine Frage über unsere nächsten Partner, und zwar nicht nur aus geografischer Sicht. Kasachstan geht bald zum lateinischen Alphabet über. Wie werden die Beziehungen mit Astana weiterentwickelt, damit Moskau für Kasachstan der Schlüsselpartner bleibt?
Sergej Lawrow: Was unsere Partner und Verbündete im Rahmen der OVKS, der GUS, der EAWU angeht, so pflegen wir mit ihnen sehr gute Beziehungen, auch mit Kasachstan. Wie Sie wissen, werden dort besonders viele Verhandlungen ausgetragen. Die Präsidenten unserer Länder treffen sich mehrmals im Laufe jedes Jahres und kontaktieren regelmäßig per Telefon. Und als Mitglieder der Eurasischen Wirtschaftsunion stehen wir auf einheitlichen Positionen im Hinblick auf den weiteren Aufbau dieser Vereinigung.
Zwar werden in Kasachstan Entscheidungen getroffen, die unter anderem den Übergang zum lateinischen Alphabet vorsehen. Aber das ist nun einmal die Entscheidung unserer kasachischen Freunde. Zudem sehen wir keine Entscheidungen, die die russische Sprache und die Rechte der ethnischen Russen in Kasachstan beeinträchtigen würden. Jedenfalls beobachten wir die Situation um diese Fragen ständig. Egal wo sich unsere Landsleute befinden, achten wir auf ihre Rechte und Interessen, und die Verteidigung ihrer Rechte und Interessen in diesen oder jenen Ländern gehört zu unseren Prioritäten. Und diese Fragen stehen auf der Tagesordnung unserer Beziehungen mit Kasachstan und allen anderen Ländern, und zwar nicht nur im GUS-Raum, sondern auch in europäischen Ländern, den USA und anderen Regionen, wo unsere Landsleute leben – und sie sind für uns die Priorität Nummer eins.
Frage: Wir beobachten nach wie vor unfreundschaftliche Schritte seitens unserer Partner aus Osteuropa. In den Baltikum-Ländern ist es inzwischen so gut wie unmöglich, in russischer Sprache zu lernen bzw. zu studieren. Es werden weiterhin Denkmäler abgerissen, und Personen, die einst Mithelfer unserer Feinde waren, werden jetzt zu Helden erklärt. Welche Arbeit wird in dieser Richtung geführt? Wären gewisse aufklärende Aktivitäten möglich, um das zu stoppen?
Sergej Lawrow: Was die Wiederbelebung von neonazistischen, revanchistischen und nationalistischen Tendenzen in Osteuropa angeht (vor allem leider in den Baltikum-Ländern und Polen), so verurteilen wir vehement jegliche Versuche, die Geschichte des Zweiten Weltkriegs, des Großen Vaterländischen Kriegs umzuschreiben. Und es ist generell keine Angelegenheit für Politiker, die Geschichte neuzuschreiben – damit sollen sich ja Historiker befassen. Mit Polen und Litauen haben wir Kommissionen, an denen sich Historiker beteiligen, und selbst in den heutigen schweren Zeiten treffen sie sich in verschiedenen Formaten und arbeiten an gewissen gemeinsamen Vorgehensweisen. Diese Arbeit ist sehr nützlich.
Sie erwähnten Kasachstan und die anderen GUS-Länder. Wir sprachen mit unseren Kollegen vom Institut der allgemeinen Geschichte, die gemeinsame Historikergruppen mit unseren ausländischen Partnern betreuen. Ich würde diese Arbeit auch im GUS-Raum befürworten. Denn wir hatten immerhin ein einheitliches Land, und es ist für uns sehr wichtig, zu verstehen, auf welche Basis und welche Prinzipien wir uns in diesem Land lebten, und wir wie noch vor der Gründung des einheitlichen Staates gelebt hatten, und wie wir schon nach 1991 Verbündete und Partner bleiben.
Wir verabschiedeten in der UNO schon viele Resolutionen gegen die Heroisierung des Nazismus. Die vorerst letzte Resolution wurde im vorigen Monat mit der absoluten Stimmenmehrheit (nur die USA und die Ukraine stimmten dagegen) verabschiedet. Im Rahmen der OVKS wurden etliche Dokumente vereinbart, die dann in der OSZE und der UNO verbreitet wurden, die unter anderem den „Krieg gegen Denkmäler“ verurteilen. Erscheinungen dieses „Kriegs“ lassen sich auch in einigen anderen Ländern Europas beobachten, unter anderem in Bulgarien, Ungarn und Deutschland. Wir sehen, dass die Behörden in den meisten Fällen sehr schnell und ganz deutlich darauf reagieren – im Sinne ihrer entsprechenden Verpflichtungen. Aber mit unseren polnischen Kollegen konnten wir uns diesbezüglich nicht einigen. Bei den Erklärungen, dass unser bilaterales Abkommen für Denkmäler, die nicht über Soldatengräbern stehen, nicht gelten würde, geht es um eine falsche Deutung dieses Dokuments. Die Juristen, die sich mit seinem Wortlaut bekannt machen, können das bestätigen. Da würden wir gerne die Einigung erreichen, zumal es auch in Russland viele Denkmäler gibt die Ausländern, unter anderem aus Osteuropa, gewidmet sind, die auf unserem Boden gefallen sind. In den meisten Fällen arbeiten wir ziemlich konkret zusammen. Ich führe einmal Slowenien als Beispiel an, wo nicht nur alte Denkmäler ideal aufrechterhalten werden, sondern auch neue Monumente zu Ehren unserer Kampfbrüderschaft errichtet werden. Und auch wir werden demnächst ein Denkmal zu Ehren der Slowenen aufstellen, die auf unserem Territorium gefallen sind. Deshalb ist das, was Sie als „Aufklärungsarbeit“ bezeichnet haben, sehr wichtig dafür, dass junge Menschen in Russland den GUS-Ländern und anderen europäischen Staaten die Geschichte kennen und keineswegs vergessen. Denn das wäre zerstörend für die europäische Zivilisation und Kultur. Neben der Aufklärungsarbeit und Propaganda (im guten Sinne) ist es natürlich wichtig, auf der Erfüllung von juristischen Verpflichtungen zu bestehen, die die europäischen Länder hinsichtlich der nach dem Zweiten Weltkrieg aufgestellten Denkmäler übernommen haben.
Frage: Am 3. März findet in Estland eine Parlamentswahl statt. Die Partei „Estland 200“ plädiert für die Bildung von vereinigten Schulen, wo russische und estnische Kinder gemeinsam lernen würden, und zwar in der Staatssprache – im Estnischen. Und das könnte nach Auffassung dieser Partei bei der Überwindung der aktuellen Spaltung der Gesellschaft, einer Art „Segregation“ helfen, als würden die Russen in „Ghettos“ leben. Und dann würden sich alle vereinigen. Was halten Sie davon?
Die estnische Innenministerin Katri Raik hat die entsprechende Erklärung des Außenministeriums gesehen und sich zu Personen mit „grauen Pässen“ – Personen ohne Staatsbürgerschaft – geäußert, von denen es etwa 78 000 bis 80 000 gibt. Nach ihrer Auffassung könnten sie binnen einer gewissen Zeit einfach die Staatsbürgerschaft beantragen – und auch erhalten. Darauf wurde ihr kritisch gesagt, dass diese Menschen das möglicherweise nicht tun wollen, weil sie ohne die estnische Staatsbürgerschaft visafrei nach Russland reisen dürfen. Dadurch würden sie einfach Probleme für sich selbst schaffen, indem sie die estnische Staatsbürgerschaft übernehmen und die Möglichkeit verlieren, Russland zu besuchen und die dortigen Kontakte aufrechtzuerhalten.
Sergej Lawrow: Was die Idee zur Bildung von vereinigten Schulen angeht, so habe ich, ehrlich gesagt, davon nichts gehört. Aber so, wie Sie sie beschrieben haben, wäre diese Idee einfach unannehmbar. Denn dadurch würden die Interessen der russischsprachigen Minderheit vernachlässigt. Im Grunde ist sie darauf ausgerichtet, diese Minderheit zwangsläufig in den estnischen Sprachraum aufzunehmen, wobei sie die Möglichkeit für Ausbildung in ihrer Muttersprache verlieren würden, was aber viele internationale Konventionen vorsehen, insbesondere die Konvention des Europarats über regionale Sprachen und Sprachen nationaler Minderheiten.
Generell halte ich die Situation um die russische Sprache in Estland und Lettland für eine sehr ernstzunehmende Sache, die diese Länder sowie für die EU und die Nato schlecht darstellt. Übrigens positioniert sich die Nato nicht nur als militärisches Bündnis, sondern auch als eine demokratische Gemeinschaft.
Ich wandte mich öfter an den Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg und hochrangige Vertreter der EU, der UNO, des Europarats und der OSZE und machte sie auf die inakzeptable Praxis zur Diskriminierung ethnischer Russen aufmerksam. Und über die schändliche Erscheinung wie „Bürgerschaftslosigkeit“ müssen wir erst gar nicht reden.
Was die Idee der estnischen Innenministerin Katri Raik angeht, alle Menschen, die in Estland seit 1991 leben, einzubürgern, so sollte das meines Erachtens jede einzelne Person selbst entscheiden. Wenn jemand denkt, dass solche „minderwertigen“ Pässe auch gewisse Vorteile haben, so ist das die Wahl jeder einzelnen Person. Aber ich hörte, dass der Außenminister Sven Mikser schon nach der Veröffentlichung dieser Initiative der Innenministerin gesagt hätte, dies wäre die persönliche Meinung Katri Raiks gewesen, dass alle Menschen, die in Estland seit 1991 leben, eingebürgert werden könnten.
Das ist aber nicht so – das ist nicht die persönliche Meinung Katri Raiks, sondern eine der Empfehlungen des Europarats und der OSZE an die estnischen Behörden, die schon vor längerer Zeit zum Ausdruck gebracht wurde. Deshalb hoffe ich sehr, dass eine Lösung des „Nichtbürger“-Problems in dieser oder jener Form gefunden wird. Und da sollten internationale Strukturen, vor allem die EU, aber auch die Nato, die OSZE und der Europarat natürlich eine möglichst aktive Rolle spielen.
Frage: Die Zeitung “Financial Times” berichtete gestern über die Wahlergebnisse in der Demokratischen Republik Kongo. Denken Sie, dass es zu Manipulationen kam und die Ergebnisse falsch sind?
Sergej Lawrow: Es wurden offizielle Ergebnisse bekanntgegeben. Ich kann da nichts hinzufügen. Ich habe gehört, dass die Wahlergebnisse nach ihrer Bekanntgabe in Frage gestellt wurden. Mein Kollege, der Außenminister Frankreichs, Jean-Yves Le Drian, sowie andere Vertreter traten auf und forderten die Revision der Ergebnisse und Neuauszählung, sowie ich verstehe. Wir mischen uns nicht in die inneren Angelegenheiten der Demokratischen Republik Kongo und jedes anderen Staates und sind davon überzeugt, dass die Kongolesen selbst eine Lösung jeder Fragen finden können, die entstehen, darunter bezüglich der Wahlergebnisse. Hier ist sehr wichtig, ihre Rechte zu respektieren und ihnen nicht Vereinbarungen aufzudrängen, wie es sehr oft in Handlungen auch Ihres Landes sowie Frankreichs in Afrika, seiner ehemaligen Kolonien, mit denen man die Beziehungen fortsetzen soll, vorkommt. Denn diese sehr alten Verbindungen verwandeln sich in sehr aufdringliche Ratschläge von außen. Wir schlagen aber vor (und bemühen uns selbst das zu machen), mehr respektvoll Angelegenheiten mit afrikanischen Ländern sowie mit allen anderen Staaten zu führen.
Frage: US-Präsident Donald Trump sagte vor kurzem, dass man eine 20-Meilen-Pufferzone im Norden Syriens errichten soll. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan bestätigte ebenfalls die Absicht, diese Zone zu schaffen. Wie schätzen Sie diesen Plan ein?
Sergej Lawrow: Wir werden das im Kontext der allgemeinen Entwicklung der Situation in Syrien einschätzen. Wie ich bereits sagte, kündigte Donald Trump den Abzug der US-Militärs aus Syrien an. In diesem Kontext war die Idee über die Schaffung einer 20-Meilen-Pufferzone zu hören. Das soll in der Aussicht betrachtet werden, die unter anderem die schnellstmögliche Wiederherstellung der Kontrolle der zentralen Behörden Syriens über seine Gebiete vorsieht. Diese Frage soll besprochen werden, wenn der Präsident der Türkei, Recep Tayyip Erdogan zur weiteren Verhandlungsrunde mit dem Präsidenten der Russischen Föderation, Wladimir Putin, kommt. Ich wiederhole nochmals, dass das Endziel in der Wiederherstellung der Souveränität und territorialen Integrität Syriens besteht, was durch Russland, die USA, die Türkei und alle andere UN-Mitgliedsstaaten unterzeichnet wurde. Dabei werden wir im vollen Umfang die Berücksichtigung der Interessen aller einbezogenen Seiten, Nachbarn Syriens anstreben. Die Sicherheitsinteressen aller Länder der Region, darunter die Türkei, werden ein Teil der Vereinbarungen, die wir anstreben, werden.
Frage: Island ist an den Sanktionen gegen Russland beteiligt und verlor damit den gesamten Fischmarkt, der für das Land sehr wichtig war. Das ist einer der größten Märkte der Meeresprodukte des Landes. Viele Fischunternehmen gingen pleite. Was soll die Republik Island machen, um auf dem Fischmarkt mit Russland wieder präsent zu sein?
In Island gibt es ein Denkmal für sowjetische Kämpfer. Island nimmt an Schändungen im Unterschied zu einigen anderen Ländern nicht teil.
Sergej Lawrow: Bezüglich der Sanktionen sollte meines Erachtens allen schon klar sein. Als Sanktionen gegen die Russische Föderation eingeführt wurden, mussten wir eine Antwort bezüglich der Landwirtschaftsprodukte geben. EU-Sanktionen, die bereits vor einigen Jahren gegen Russland eingeführt worden waren, und an denen unter anderem Island teilnimmt, sahen Einschränkungen für russische Banken vor, darunter jene, die sich mit Kreditvergabe für Landwirtschaft befassen, damit wurden die Landwirtschaftsproduzenten unter diskriminierende Bedingungen gestellt. Deswegen wurden Gegenmaßnahmen bezüglich der nach Russland importierenden Lebensmitteln und anderen Landwirtschaftserzeugnissen eingeführt.
Die Lösung wäre einfach – auf diese Methoden der Führung internationaler Angelegenheiten verzichten, obwohl sie jetzt im Westen und insbesondere in den USA immer populärer werden. Es gibt nur einen Ausweg – man soll auf die Diktat-Versuche, unlautere Konkurrenz via Sanktionen bzw. andere Methoden verzichten. Jene, die zu diesen Methoden als erste griffen, müssen den ersten Schritt machen. Wir hören oft, dass sie begonnen haben, wir sollten ihnen aber helfen, denn sie Sanktionen aufheben wollen, und Russland etwas machen soll. So wird in vielen Fällen gesagt, in denen es nicht wir waren, die das Problem schafften – ob Sanktionen oder Krise in Europa-Rat wegen Situation in der Parlamentsversammlung. Sie verstehen, dass wir Recht haben. Sie sollten darauf verzichten und Fragen lösen, doch sie bitten uns, irgendeinen Anlass zu geben, damit sie ihn als Zeichen das vorlegen, dass wir zuhörten und etwas Nützliches für den Westen machten. Es ist meines Erachtens nicht sehr konstruktiv, so Angelegenheiten zu führen. Besser ist fair vorzugehen. Wenn Sachen gemacht wurden, die von den Meisten als fehlerhaft bezeichnet werden, soll das beseitigt werden. Haben sie keine Zweifel daran, dass wir mit Gegenseitigkeit antworten werden. Das wird sehr schnell sein.
Frage: Im vergangenen Jahr besuchte eine ziemlich repräsentative Delegation des Außenministeriums (rund 20 russische Botschafter) die Jamal-Halbinsel zur Analyse des Investitionspotentials des Kreises. Man möchte Ihre Einschätzung hören, inwieweit das Zusammenwirken mit den russischen Regionen heute produktiv ist? Wird solche Praxis fortgesetzt?
Sind wir mit der Situation bei der Kooperation in der Arktis zufrieden?
Sergej Lawrow: Ich möchte Worte der Dankbarkeit an die Führung der Region für die Einladung unserer Botschafter ausdrücken. Bei uns wird diese Praxis seit langem angewendet. Jede zwei Jahre findet eine Sitzung der russischen Botschafter in Moskau statt, vor denen der Präsident Russlands auftritt, zahlreiche Sektionen geschafft werden, wo verschiedene Aspekte der Tätigkeit unserer ausländischen Einrichtungen erörtert werden. Für uns ist prinzipiell wichtig, dass die Botschafter, besonders unter heutigen Bedingungen, wenn die Diplomatie allumfassend wird und nicht nur politische Fragen, sondern auch Initiativen betrachtet, die die Förderung der Wirtschaftsinteressen des Landes, unserer Wirtschaftsunternehmen ermöglichen, wissen, wie heute die Regionen wohnen – die Grundlage der Russischen Föderation. Jedes Mal, wenn Botschafter zu dieser Sitzung kommen, bitten wir die Leiter entsprechender Subjekte der Russischen Föderation (vorwiegend abwechselnd), uns zu empfangen. Im vergangenen Jahr waren es zwei Regionen (Gebiet Tula, Autonomer Kreis der Jamal-Nenzen), wohin unsere Botschafter reisten, darunter die Jamal-Halbinsel. Das ist sehr nützlich für sie. Ich habe mit einigen von ihnen gesprochen. Sehr wichtig ist zu sehen, wie die Region lebt, die einer der Entwicklungsmotoren nicht nur Sibiriens, sondern auch der Russischen Föderation im Ganzen ist. Die Projekte, die dort umgesetzt werden, sind Projekte des höchsten Weltniveaus, ich werde darüber sogar nicht ausführlich sprechen.
Die Rolle der Regionen bei der Umsetzung unserer Außenpolitik ist groß. Erstens, weil die Regionen neben dem Föderalen Zentrum gerade die Russische Föderation sind. Zweitens, weil die Regionen immer mehr zu Außenverbindungen neigen. Wir haben einen speziellen Erlass des Präsidenten Russlands, der die Außenverbindungen der Regionen regelt und das Außenministerium Russlands als Koordinator dieser Prozesse festlegt, um eine einheitliche Außenpolitik zu gewährleisten. Wir befassen und nicht mit Mikromanagement. Alle Wirtschaftsvereinbarungen, die die Regionen abschließen, gewöhnlich mit ihren Nachbarn, werden in den meisten Fällen von ihnen selbst abgeschlossen, oder bei Unterstützung des Wirtschaftsblocks der russischen Regierung. Wir verfolgen, dass sich das alles in unseren allgemeinen außenpolitischen Kurs einschreibt.
Beim Außenminister Russlands gibt es den Rat der Leiter der Subjekte der Russischen Föderation, wo jedes Jahr sieben Leiter der Regionen (auf Rotationsbasis), das Wirtschaftsministerium, Industrie- und Handelsministerium, Föderaler Zolldienst und andere Dienste, die mit der Lösung der Fragen verbunden sind, die die Regionen bei ihren außenwirtschaftlichen Verbindungen interessieren, vertreten sind.
Der Arktis-Rat ist eine sehr nützliche Organisation. Wir unterstützen allumfassend die Prozesse in diesem Organ. Das ist wohl eine der wenigen Strukturen, die nicht von geopolitischen Streitigkeiten betroffen ist. Sie funktioniert äußerst korrekt und entpolitisiert. Wir denken, dass es ein Vorbild ist. Jetzt hat Finnland den Vorsitz. Geplant sind die Veranstaltungen, über die unsere finnische Kollegen sicher zusätzlich berichten werden. Es wird eine gegenständliche Arbeit zu Fragen der Entwicklung der Ressourcen des Nordens bei der Aufrechterhaltung der Umwelt, Gewährleistung der Interessen der indigenen und kleinen Völker des Nordens geführt. Dort gibt es eine spezielle Gruppe, die an diesem Thema arbeitet und die Situation verfolgt. Das ist sehr wichtig. Neben der Entwicklung der Verkehrsinfrastruktur leisten wir unseren Beitrag, indem eine mehr sichere und effektive Nutzung der Nordostpassage gewährleistet wird.
Frage: Die Außenpolitik Russlands – konstruktiv, strikt, ernsthaft – wurde zum Faktor der internationalen Sicherheit. Russland kehrte in den Nahen Osten zurück, es wird respektiert, die Position Ihres Landes wird von allen berücksichtigt. Dank der Politik Russlands werden viele Herausforderungen in der Welt „eingedämmt“.
Es liegt auf der Hand, dass die EU nicht über das Potential verfügt, das für die Lösung der Probleme erforderlich ist, die mit dem Ausstieg der USA aus dem iranischen Atomdeal verbunden sind. Es sind acht Monate seit der Zeit vergangen, als die EU versprach, einen Finanzmechanismus zur Fortsetzung eines Dialogs mit dem Iran auszuarbeiten und eine Entschädigung für europäische Unternehmen zu gewährleisten, wenn sie von Sanktionen betroffen werden.
Zu Beginn der sowjetischen Macht wurde die sowjetisch-persische Bank mit der Kapitalisierung von 5 Mio. Dollar geschaffen, während die Kapitalisierung der Zentralbank Irans 500.000 Dollar ausmachte. Diese Bank wurde zum starken Anreiz für die Entwicklung des Handels, Landwirtschaft und Industrie beider Länder, Festigung der Positionen der Sowjetunion im Iran.
Jetzt funktioniert keine Bank im Iran. Wir warten auf den Beschluss der EU, doch Brüssel ist nicht imstande, diesen Finanzmechanismus auszuarbeiten. Sie leiten die Außenpolitik Russlands und könnten Lokomotive für solche Ministerien wie Industrie- und Handelsministerium und Wirtschaftsministerium Russlands bei der Schaffung einer russisch-iranischen Bank werden, die in Nationalwährungen zur Gewährleistung der Unanfechtbarkeit für US-Sanktionen und andere westliche Länder funktionieren würde.
Sergej Lawrow: Wie Sie wissen, wird die Außenpolitik Russlands gemäß der Verfassung durch Präsident bestimmt. Wir bemühen uns, sie nach besten Kräften umzusetzen. Vielen Dank für Ihre guten Worte.
Was eine konkrete Situation um den Gemeinsamen umfassenden Aktionsplan zum iranischen Atomprogramm betrifft, trafen sich die Teilnehmer des Aktionsplans minus USA im Juli 2018 in Wien, dann im September 2018 – auf der Außenministerebene am Rande der UN-Vollversammlung in New York. Wir haben dieses Thema mehrmals vor der EU gestellt. Brüssel versprach seit langem, den so genannten „special purpose vehicle“ – speziellen Zahlungsmechanismus zu schaffen, der unabhängig von den USA, SWIFT-System sein wird, das von den USA durch künstlich erhöhte Positionen von Dollar unter Kontrolle genommen wurde. Die EU verspricht uns immer wieder, dass diese Arbeit demnächst abgeschlossen wird. Vor kurzem fanden weitere Kontakte zwischen meinem Stellvertreter und Vertretern des europäischen außenpolitischen Dienstes statt, doch wir sehen, dass bislang die Arbeit sehr schwer und die Zeit deutlich schneller läuft.
Sie haben sicher Mitteilungen gelesen, wie dieses Problem im Iran konfliktbeladene Kommentare in den politischen Kreisen auslöst. Das hilft nicht der Sache. Das ist leider nicht die einzige Situation, wo die EU kein Ergebnis erreichen kann. Ich weiß nicht, wo der Grund steckt. Wir erwähnten den Balkan, Kosovo, wo die EU eine sehr nützliche Rolle spielte. Uns schien, dass die EU die Vereinbarungen zwischen Pristina und Belgrad bei mehreren wichtigen Fragen förderte – vor einigen Jahren wurde der Beschluss angekündigt, die Gemeinschaft der serbischen Munizipalitäten des Kosovo zu schaffen, um die Rechte der Serben zu gewährleisten, die in dieser Region wohnen. Bislang wurde sie nicht geschafft. Pristina weigert sich kategorisch, etwas zu machen, die EU kann es nicht zur Ordnung aufrufen.
Ich habe über erfolgreiche Erfahrung der sowjetisch-persischen Bank gehört. Es geht nicht darum, dass es eine Bank bzw. einen anderen Mechanismus geben wird. Das Ziel ist äußerst klar – zu gewährleisten, dass der Handel zwischen dem Iran und anderen Ländern, darunter Russische Föderation, nicht von einseitigen Handlungen der USA abhängt. Ich kann Ihnen zusichern, dass das Wirtschaftsministerium Russlands sowie andere Dienste entsprechende Schritte unternehmen. Unsere iranischen Partner wissen es. Auf ähnliche Weise gehen auch andere Handelspartner Teherans vor. Es handelt sich um einen deutlich schnelleren Übergang, als früher geplant wurde, zu Nationalwährungen beim gegenseitigen Zahlungsverkehr. Es gibt auch andere Ideen, die auf der Ebene der Wirtschaftsdienste erörtert werden.
Frage: Das ganze Europa verfolgt jetzt mit Besorgnis die Situation um Brexit. Die Beziehungen zwischen Russland und Großbritannien, besonders nach dem Skripal-Fall sind sehr gespannt geworden. Welches Brexit-Szenario wäre am interessantesten für Russland angesichts seiner Interessen in Europa?
Sergej Lawrow: Das ist die Sache Großbritanniens und seiner Staatsbürger, des Parlaments dieses Landes. Uns ist natürlich nicht gleichgültig, wie das die EU beeinflussen wird, denn die EU ist unser größter Handelspartner als Organisation (auf der nationalen Ebene ist es China) auch trotz der Tatsache, dass der Handelsumsatz wegen der Sanktionen von rekordhohen 400 Mrd. Dollar auf rund 270 Mrd. Dollar zurückging.
Im Zusammenhang mit Brexit, und nicht nur, geschehen viele Prozesse, die das Funktionieren der EU beeinflussen werden. Für uns ist es sehr wichtig zu verstehen, wie das unsere Beziehungen treffen wird, vor allem handelswirtschaftliche Beziehungen. Doch zu sagen, welche Variante für uns „am interessantesten“ sein wird – diese Psychologie ist für Länder und Politiker typisch, die sich einmischen wollen und Prozesse in anderen Staaten „dirigieren“ wollen. Wir befassen uns nicht damit. Ich führte Beispiele an, wie man die Prozesse der Vorbereitung des Prespa-Abkommens in Mazedonien offen „dirigierte“. Jetzt wird in Deutschland via US-Botschafter versucht, die Position der deutschen Unternehmen zur Nord Stream-2 zu „dirigieren“. Das sind nicht unsere Herangehensweisen.
Wir sagen nichts über Brexit, obwohl jemand ständig schreibt, dass Russland Schadenfreude hat. Das stimmt nicht. Wir sagten immer, lange vor Brexit, dass wir an einer einheitlichen, starken und selbstständigen EU interessiert sind. Mal sehen, was sein wird. Natürlich sind wir bereit, sowohl mit der EU, als auch mit Großbritannien zu kooperieren, falls alles mit seinem Ausstieg aus der EU endet. In welchen Formen ist es besser das zu machen, werden wir noch bestimmen, wenn wir verstehen, was in der Tat stattfand.
Frage: Serbien versucht, dem Problem der Wahl zwischen Russland und der EU auszuweichen, allerdings sind im Lande Stimmen zu hören, dass die Wahl doch gemacht werden soll. Sie haben im vergangenen Jahr eine fruchtbare Reise nach Belgrad gemacht. Jetzt reist der Präsident Russlands, Wladimir Putin, dorthin. Welche Ziele hat die russische Außenpolitik in Serbien?
Sergej Lawrow: Sie haben richtig bemerkt, dass Europa meint, dass Serbien im Ergebnis eine Wahl zwischen Russland und der EU machen muss. Das ist auch die Mentalität, die sich seit langem ausgelebt hat. Sie widerspiegelt altes koloniales Vorgehen. Ich führte bereits mehrmals ein Beispiel an, als die EU den Weg der einseitigen Forderungen in der Logik der Nullsummenspiele ging. So forderte der Außenminister Belgiens Karel De Gucht, der später EU-Kommissar wurde, während des „ersten Maidans“ in der Ukraine 2003, dass die Ukrainer entscheiden müssen, mit wem sie sind – mit Russland oder mit Europa. Solche provokative Herangehensweisen, die großmächtige Stimmungen widerspiegeln, entsprechen nicht den Beschlüssen, die wir alle zusammen in der OSZE und im Rahmen der Beziehungen zwischen Russland und der EU trafen.
Jetzt laufen in Serbien vorläufige Verhandlungen zu verschiedenen Themen. Die EU sagt offen, dass Serbien, erstens die Unabhängigkeit des Kosovo anerkennen muss, um der EU beitreten, und zweitens, sich der Russland-Politik der EU anschließen muss, darunter Einführung der Sanktionen. Das ist einfach unanständig. Ich sagte bereits mehrmals, dass die EU immer stolz auf ihre Einheit ist, doch in der letzten Zeit wird sie auf Grundlage eines geringeren gemeinsamen Nenners erreicht, wenn eine ziemlich aggressive Minderheit von anderen EU-Ländern die Positionen fordert, die gegenüber Russland offen voreingenommen und diskriminierend sind.
Ich würde empfehlen, auf die Logik „entweder mit Russland, oder mit der EU“ zu verzichten. Wollen wir zu den Zeiten zurückkehren, als große Europäer wie Charles de Gaulle und andere Personen die Vision eines einheitlichen Raums vom Atlantik zunächst bis zum Ural und dann bis zum Pazifischen Ozean aufbrachten. Das alles ist in den Dokumenten der OSZE, Russland-EU, Russland-Nato (über gleiche und unteilbare Sicherheit) widerspiegelt, doch in der Praxis wird aus irgendeinem Grund keine Verhandlungsfähigkeit gezeigt.
Wir sind dafür, zur Philosophie der gemeinsamen Zusammenarbeit auf Grundlage des Gleichgewichts der Interessen und nicht Aufdrängens von Ansichten, die von einer kleinen Gruppe der Staaten ausgearbeitet werden, egal wie einflussreich sie sind, zurückzukehren.
Frage: Vor einiger Zeit gab es aktive Gespräche über eine Friedensmission im Donezbecken. Wird darüber nicht mehr gesprochen? Oder wird etwas hinter Kulissen vorbereitet?
Sergej Lawrow: Das ist wohl, worüber ich heute sprach – über das Verhältnis von Völkerrecht und Regeln, die ausgedacht und als Grundwahrheit präsentiert werden.
Was das Völkerrecht betrifft, gibt es die Minsker Vereinbarungen, die vom UN-Sicherheitsrat gebilligt wurden. Gemäß diesen Vereinbarungen sollen alle Fragen via einen direkten Dialog zwischen Kiew und Donezk und Lugansk unter Vermittlung der OSZE gelöst werden. Es wurde eine spezielle OSZE-Sonderbbeobachtermission in der Ukraine gebildet – nicht nur im Donezbecken, sondern auch in der Ukraine im Ganzen, darunter in anderen Regionen, wo die Mission die Überwachung der Erfüllung der Verpflichtungen der Ukraine bezüglich der Menschenrechte und anderen Fragen des europäischen Lebens gewährleisten soll. Diese Mission bekam Probleme mit der Sicherheit, es kam zu Vorfällen. So kam ein Mitarbeiter, ein Amerikaner, nach einer Minensprengung ums Leben. Die Mission führte eine Untersuchung, doch als sie zeigte, dass die Mine nicht von Aufständischen gestellt wurde, wurde das Thema in den Schatten verlegt.
In diesem Zusammenhang möchte man daran erinnern, dass wir mit unseren OSZE-Kollegen, der Führung der OSZE-Sonderbeobachtermission in der Ukraine mehrmals dazu aufriefen, transparenter in ihren Berichten zu sein, weil sie meistens schreiben, dass es am jeweiligen Tag bzw. Woche eine bestimmte Zahl des Beschusses von Ortschaften bzw. Opfer gab, doch es ist unklar, wer auf wen schoss. Im September 2017 machte die Mission unter unserer Einwirkung endlich einen Bericht, wo gezeigt wurde, welche Opfer und Ziele es auf der Seite der Aufständischen gab, wie die Situation auf der Seite der ukrainischen Streitkräfte aussieht. Da ist ziemlich klar zu sehen, dass vor allem die ukrainischen Sicherheitsdienste die Ortschaften beschießen, und die Aufständischen in den meisten Fällen antworten. Die Zahl des Beschusses der Ortschaften durch ukrainische Streitkräfte ist um das Mehrfache höher als eine entsprechende Statistik der Aufständischen. Dasselbe betrifft die Opfer unter Zivilbevölkerung.
Da wir uns heute mit Journalisten treffen, würde ich das erwähnen, was ich mehrmals den westlichen Kollegen sagte, als sie versuchten mich davon zu überzeugen, dass Donezk und Lugansk an allen Problemen an der Trennungslinie schuld sind, und es gerade die Aufständischen sind, die die Schießerei und Zusammenstöße beginnen – die Vertreter der russischen Medien arbeiten auf der östlichen Seite der Trennungslinie fast im Live-Format. Ihre Kollegen machen regelmäßig Reportagen vor Ort und zeigen, was im realen Leben auf der Seite der Aufständischen vor sich geht. Ich riet mehrmals den westlichen Kollegen, die reale Fakten infrage stellen, den westlichen Journalisten vorzuschlagen, auch solche Arbeit auf der Seite der Trennungslinie, die von den Streitkräften der Ukraine kontrolliert wird, aufzunehmen. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass dort jemand arbeitete, nicht auf ständiger Grundlage, aber zumindest regelmäßig. Vor etwa anderthalb Jahren war dort ein BBC-Drehteam, das meines Erachtens eine ziemlich objektive Reportage vorbereitete, doch seit der Zeit gab es dort niemanden.
Wenn die Journalisten, ob von BBC, Euronews usw., daran interessiert sind, die Wahrheit zu erzählen, wenn Ihre Regierungen Sie nicht dazu aufrufen, in einem der aus geopolitischer Sicht am meisten problematischen Orte der Welt zu arbeiten, kann ich mich an Sie mit der Bitte wenden, die Arbeit auf der westlichen Seite der Trennungslinie im Donezbecken besser zu leisten. Jedenfalls werden Sie dann viel mehr erfahren als nur aus Reportagen, die von jemandem fern zusammengesetzt werden.
Zurück zur Mission: Als es Probleme mit der Sicherheit gab, schlugen wir angesichts der Befürchtungen von Vertretern Deutschlands und Frankreichs vor, die OSZE-Beobachter mit leichten Schusswaffen zu rüsten. Die OSZE lehnte diese Initiative ab. Übrigens sagten auch die Deutschen und Franzosen, dass es schlecht wäre, weil die OSZE kein Recht auf solche bewaffneten Friedensoperationen hätte. Dann schlug der russische Präsident Wladimir Putin vor (und wir brachten die entsprechende Resolution in den UN-Sicherheitsrat ein), eine UN-Mission zu bilden, die die OSZE-Beobachter schützen würde. Diese Resolution war sehr einfach und stützte sich auf die völkerrechtliche Akte: das Mandat der OSZE und der UNO zur Unterstützung der Minsker Vereinbarungen. Darin war vorgesehen, dass die OSZE-Beobachter von UN-Wächtern begleitet werden sollten, egal wo sie sich im Donezbecken befinden würden.
Das war die völkerrechtliche Vorgehensweise. Aber unsere westlichen, vor allem amerikanischen, Kollegen formulierten wieder eine „Regel“, die der US-Beauftragte für die Ukraine, Kurt Volker, sich einfallen ließ. Diese Regeln bestanden nicht darin, den direkten Dialog zwischen Kiew und dem Volksheer im Sinne der Minsker Vereinbarungen zu fördern und durch diesen Dialog unter Mitwirkung der OSZE alle Fragen zu regeln, sondern darin, in die Donbass-Region ein UN-Kontingent (insgesamt 30 000 Militärs mit schweren Waffen, insbesondere mit verschiedenen Waffengattungen) einzuführen und das ganze Donbass-Territorium unter Kontrolle zu nehmen, von dem wir gerade sprechen. Dann sollten das dortige Volksheer, die Polizei und die Selbstverwaltungsorgane in Donezk und Lugansk aufgelöst werden. Dann sollten die UN-Polizei und -Administration hingeschickt werden, die dort alles entscheiden würden.
Im Sinne dieser „Regel“, die uns die USA anbieten, wären keine Wahlen nötig. Statt der Konsense und Kompromisse zwischen dem Donezbecken und Kiew würde man den Menschen die einseitige Lösung aufzwingen. Wir erklärten, warum wir die Logik und die Entscheidungen des UN-Sicherheitsrats nicht aufgeben und das Völkerrecht durch diese Regel nicht ersetzen können, die sich Kurt Volker einfallen ließ. Ich denke, alle verstehen uns, auch wenn sie so tun, als wäre der einzige Ausweg aus der Ukraine-Krise, den aktuellen Behörden zu gehorchen und die Donbass-Region zum Aufgeben zu zwingen. Es ist aber absolut unrealistisch, darauf zu hoffen. Es wäre immerhin besser, wenn unsere deutschen und französischen Kollegen, die sich im „Normandie-Format“ für die Minsker Vereinbarungen aussprachen, wie auch alle anderen Mitglieder der Weltgemeinschaft, auch die USA, auf direkten Verhandlungen über die Umsetzung des Minsker Maßnahmenkomplexes bestehen.
Frage: Ende der vorigen Woche verkündeten amerikanische Medien, die USA wollen ihre Positionen in der Arktis festigen, und zwar angesichts der „zu großen“ Ansprüche Russlands und Chinas in dieser Region. Unter anderem wurde unter Berufung auf den Befehlshaber der US-Kriegsmarine, R. Spencer, mitgeteilt, dass Washington im Sommer dieses Jahres seine Kriegsschiffe in die Arktis schicken wolle, was der erste Einsatz der US-Seestreitkräfte zwecks Förderung der Schifffahrtfreiheit in der Region wäre.
Sie hatten zuvor, nämlich auf einem Ministertreffen des Arktis-Rats im Mai 2017 in Alaska, erklärt, dass es in der Arktis kein Konfliktpotenzial gäbe. Was halten Sie von der Absicht der USA zum Ausbau ihrer Militärpräsenz in der Arktis? Könnte dieser Schritt zu einem neuen Anlass für die Anspannung der Beziehungen zwischen Russland und den USA werden? Wird Russland Gegenmaßnahmen im Falle der Entsendung von US-Kriegsschiffen in die Arktis ergreifen?
Sergej Lawrow: Die USA sind eine Arktis-Großmacht. Laut dem Völkerrecht, unter anderem laut dem Seerechtsübereinkommen von 1982, können die USA, wie auch alle anderen Arktis- und auch Nicht-Arktis-Großmächte, die Seewege in dieser Region nutzen.
Wenn es darum geht, dass Kriegsschiffe eines jeden Staates die Nordostpassage nutzen wollen, dann gibt es dafür bestimmte Regeln. In diesem Herbst passierte ein französisches Kriegsschiff die Nordostpassage. Wir hatten mit unseren französischen Kollegen alle Details besprochen, und dann entstanden keine weiteren Fragen.
Wir gehen davon aus, dass alle diese Regeln respektieren werden, denn anders geht es einfach nicht. Die Russische Föderation trägt die Verantwortung für die Effizienz und Sicherheit der Nordostpassage.
Was die Gründe angeht, aus denen die USA auf diese Region immer mehr achten, so sind sie, wie gesagt, eine Arktis-Großmacht. Falls die USA die Rechtsnormen, unter anderem die russischen Normen für die Nutzung der Nordostpassage einhalten, sehe ich da keine Probleme. Ob sie dadurch ein zusätzliches Konfliktpotenzial schaffen wollen, weiß ich nicht. Ich will nichts voreilig sagen. In einer ganzen Reihe von Regionen, darunter im Südchinesischen Meer, tun die USA das – sie versuchen, sich in territoriale Auseinandersetzungen zwischen China und anderen Ländern Südostasiens einzumischen. Ich hoffe sehr, dass diese Gewohnheit, überall Situationen zu provozieren, in denen sich die Beziehungen zwischen verschiedenen Ländern anspannen, in der Arktis nicht zum Ausdruck kommen wird. Das würde jedenfalls nicht zur multilateralen Kooperation im Rahmen des Arktis-Rats beitragen.
Frage: Die USA haben in diesem Jahr einen Handelskrieg gegen China ausgelöst. Auch Russland wird mit der sich immer weiter anspannenden Situation in der Welt konfrontiert. Manche Experten finden, dass diese Situation die Solidarität zwischen unseren Ländern fördern könnte. Stimmen Sie dieser Auffassung zu? Wie werden sich unsere außenpolitischen Beziehungen entwickeln?
Sergej Lawrow: Es gibt viele Spekulationen um die Beziehungen im „Dreieck“ Russland-China-USA. Manche wollen in die Zeiten zurückkehren, als die USA unter Präsident Richard Nixon sich für eine Normalisierung der Beziehungen mit China entschlossen, um die Sowjetunion einzudämmen. Es gibt auch viele, die etwas anderes wollen.
Vor kurzem brachte ein Mitglied der japanischen Regierungspartei die Idee zum Ausdruck, dass mit Russland ein Friedensvertrag abgeschlossen werden müsste, vor allem um China einzudämmen.
Wenn man alles, was in den Beziehungen zwischen unseren Ländern passiert, aus der Sicht der Verschlechterung dieser Beziehungen betrachtet, so dass wir auseinandergeraten, ist das sehr bedauernswert, denn das widerspiegelt eben die Mentalität: „Entweder mit uns oder gegen uns“.
Russland und China sind nicht gegen jemanden befreundet – wir sind befreundet, weil wir Nachbarn, strategische Partner in den internationalen Angelegenheiten sind, weil wir viele gemeinsame Interessen haben, weil wir beide an einer stabileren, sicheren und demokratischeren Welt interessiert sind. Das bildet eben die Basis unserer strategischen Partnerschaft und allumfassenden Zusammenarbeit. Noch sind wir beide daran interessiert, dass das globale Handelssystem aufrechterhalten wird, dass es noch besser lenkbar und nachvollziehbar wird und weniger von Kapricen dieser oder jener Länder abhängt. Ich denke, dass wir auf diesem Gebiet Aufgaben noch für viele Jahre haben, aber wir sind rechnen damit, Erfolg zu haben.
Frage: Wie schätzen Sie das Jahr 2018 für die russisch-aserbaidschanischen Beziehungen ein? War das ein Durchbruchsjahr? Warum kam in Moskau im vorigen Jahr ein Gipfeltreffen im Format Russland-Aserbaidschan-Iran nicht zustande? Wie sind seine Perspektiven? Wie sind die Perspektiven des Formats Russland-Aserbaidschan-Türkei?
Sergej Lawrow: Was unsere Beziehungen mit Aserbaidschan angeht, so würde ich Begriffe wie „Durchbruch“ vermeiden, denn unsere Beziehungen entwickeln sich durchaus nachhaltig und konsequent. Im vorigen Jahr fanden sehr inhaltsreiche Treffen auf der Präsidentenebene sowie meine Treffen mit Elmar Mamedjarow in Baku und Moskau statt. Unsere außenpolitischen Behörden arbeiteten auch eng zusammen. Schon wieder wurde unter der Schirmherrschaft der Präsidenten Russlands und Aserbaidschans, Wladimir Putin und Ilcham Alijew, ein internationales humanitäres Forum in Baku organisiert. Alles kann ich jetzt wohl nicht aufzählen.
Wir sind durch etliche formelle, offizielle und auch informelle Veranstaltungen miteinander verbunden, insbesondere durch das Internationale Musikfestival „Schara“, das sowohl in Russland als auch in Aserbaidschan sehr populär ist.
Ich würde das vergangene Jahr sehr positiv bewerten. Wir wirkten in solchen Strukturen wie GUS, UNO, OSZE sowie im Europarat erfolgreich zusammen, wo man sich gegenüber Aserbaidschan ebenfalls eher voreingenommen verhält. Auch in der PACE versucht man, aserbaidschanische Parlamentarier zu diskreditieren.
Im vorigen Jahr kam es zu einem Machtwechsel in Armenien, und deshalb beschränkte sich unser Beitrag zur Arbeit der Co-Vorsitzenden der Gruppe für Konfliktregelung in Bergkarabach nur auf erste Bekanntschaftstreffen. In diesem Jahr sollen neue Kontakte der Co-Vorsitzenden im Namen Russlands, Frankreichs und der USA mit den Außenministern Armeniens und Aserbaidschans stattfinden. Ich denke, dass wir auch in dieser Richtung zur Regelung des Konflikts beitragen könnten, der zwar langjährig, aber durchaus lösbar ist, wenn Jerewan und Baku den entsprechenden guten Willen zeigen und wenn die Weltgemeinschaft, insbesondere die Co-Vorsitzenden, sie dabei unterstützt. Ich denke, dass Bakus Signale von der Bereitschaft zur Suche nach Auswegen unterstützt werden sollten. Wir hoffen, dass auch unsere armenischen Freunde darauf reagieren werden.
Was den zweiten Teil Ihrer Frage angeht, nämlich das Format Russland-Aserbaidschan-Iran, so gab es keine Vereinbarungen, dass seine Treffen jedes Jahr stattfinden sollten. Deshalb wäre es nicht ganz korrekt, zu sagen, dass ein dreiseitiges Präsidententreffen nicht organisiert werden konnte. Es ist in der Tat so, dass wir an der Reihe sind, den nächsten Gipfel im Format Russland-Iran-Aserbaidschan einzuberufen. Wir bereiten ihn vor, und er wird auch stattfinden – das versichere ich Ihnen.
Was andere mögliche Formate unter Beteiligung Aserbaidschans angeht, so gab es noch keine praktischen Schritte zwecks Umsetzung diesbezüglicher Gespräche. Wir müssen zusehen, wie nützlich solche Formate wären. Ein neues Format zu bilden, damit es einfach besteht, würde wohl nicht den Interessen Aserbaidschans, Russlands und anderer möglicher Teilnehmer entsprechen. Wie gesagt: Falls diese oder jene Form unseres Zusammenwirkens einen bedeutenden „Mehrwert“ haben wird, werden wir eine solche Möglichkeit gerne erwägen.
Quelle: russische-botschaft.ru
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